Interview mit Lothar Fritsch, 18.03.2019

Lothar Fritsch schrieb als Informatikstudent an der Universität des Saarlands eine lange Rezension von Piazza virtuale im Usenet, heute unterrichtet er an der Oslo Metropolitan University in Oslo Informatik.

Interviewer: Also bedanke ich mich erstmal für Ihre Bereitschaft, mit uns zu sprechen. Und das ist ja ein bisschen ungewöhnlich, also die meisten Interviews, die wir bisher geführt haben, waren normalerweise mit Machern der Piazza Virtuale. Sie sind jetzt das Publikum und das Publikum kommt ja normalerweise höchstens in Form von Meinungsfreiheiten oder Einschaltquoten zu Wort, aber da Sie sich im Usenet damals geäußert haben, dachte ich halt, das ist doch eine gute Gelegenheit, auch mal jemanden von der anderen Seite der Mattscheibe befragen zu können. Und ja, damit sind wir auch gleich bei unserem. Thema. Sie haben zu der Zeit Informatik studiert. Könnte das auch was damit zu tun haben, dass Sie an diesem Format so ein Interesse gehabt haben? Oder würden Sie sagen, das war schon ein Programm, das im Prinzip für jedermann sehbar oder interessant gewesen ist oder war es wirklich dieser technische Aspekt auch?

Lothar Fritsch: Also für mich war das der technische Aspekt erstmal. Zu dem Zeitpunkt, als die erste Piazza Virtuale online war, da hat man ja zu Hause mit Modems rumgebastelt und Akustikkopplern und viel gearbeitet bis man über Telefonleitungen ein paar Daten nach Hause tauschen konnte. Und wir Informatikstudenten waren vermutlich die kleine Gruppe Studenten, die überhaupt eine Idee vom Internet hatte, dadurch dass man das am Rechenzentrum mitbenutzen durfte. Die meisten anderen Studenten hatten, soweit ich mich erinnere, zu dem Zeitpunkt noch nichts vom Internet gehört. Da hat man halt irgendwo mit einer Mailbox mal etwas runtergeladen. Es waren schon spezielle Leute Communities von Leuten, die das gemacht haben. Das Interesse für die Piazza Virtuale, mal sehen was passiert, wenn man die Medien koppelt und normale Leute plötzlich diese Techniken benutzen.

Interviewer: Also das war ja noch zu der Zeit vor dem World Wide Web, was ja dann so im Prinzip das Internet erst für Nicht-Informatiker benutzbar gemacht hat. Also Sie sagen, Sie hatten also ich hätte gedacht jetzt vor allen Dingen über Mailboxen schon online Erfahrung, aber Sie hatten über die Hochschule auch schon Kontakt mit dem Internet in FTP und Telnet, und E-Mail und Usenet Format gehabt, ja?

Lothar Fritsch: Ja richtig also wir hatten ja als Studenten Programmierübungen in Rechnersälen, in denen wir tatsächlich vernetzte Rechner hatten, und ich war ja auch noch in der Fachschaft organisiert und dort gab es dann einen uralten Terminalserver mit so richtigen grün-weiß Text Terminals, wo man dann als Student auch noch einen Account haben konnte. Und überwiegend textbasiert mit Kommandos das Internet benutzen.

Interviewer: Entschuldigung. Wenn man so was man an Publikumsreaktionen im Nachhinein jetzt noch so rekonstruieren kann, dann wird oft gesagt, dieses ganze Format ist für den normalen Zuschauer ungenügend erklärt worden. Man hätte eigentlich gar nicht gewusst, wer da dahinter steckt und wie das alles so funktioniert und man konnte halt anrufen. Aber würden Sie das auch so unterstreichen, dass man das, wenn man nicht gewisse technische Vorkenntnisse gehabt hat oder selbst mit denen nicht so richtig zugänglich gefunden hat?

Lothar Fritsch: Das ist jetzt schwer zu beurteilen. Also wenn ich mich recht erinnere, dann war es sehr schwer, tatsächlich reinzukommen ins System, so dass man selber interagieren konnte. Da riefen natürlich viele Leute an und die Warteschlange war lang. Das Malprogramm mit Touchtelefontasten, das sollte eigentlich jeder bedienen können, der Tasten drücken kann. Wenn ich mir jetzt vorstelle, wenn Menschen von heute mit der Piazza Virtuale konfrontiert würden, die würden nicht lange nachdenken mitmachen mit den Chats und online-Kollaborationen und Computerspielen mit mehreren Menschen. Und die würden drauf los klicken. Ich denke, das war vermutlich einfach nur die Scheu vor dem neuen Medium.

Interviewer: Also, weil Sie gerade sagen, es war schwer durchzukommen. Die Statistiken sagen, dass da zum Teil mehr als 10.000 Leute pro Stunde angerufen haben, also von daher ist es auch verständlich, dass es nicht leicht war, da durchzukommen. Würden Sie sagen, dass das auch die Interaktion beeinflusst hat? Negativ ist halt, dass letztlich nur sehr wenig Leute waren die da dann wirklich im Gespräch miteinander kommunizieren konnten.

Lothar Fritsch: Was mich etwas gelangweilt hat damals waren die Interaktionen, die man dann auf dem Fernseher zuschauen konnte, passiv. Das war nicht schrecklich viel. Also die Leute haben “Hallo , von wo rufst du an“ gesagt? wie man das heute mit dem Mobiltelefon im Zug mithört. Und dann haben relativ wenige tatsächlich interaktive Gespräche zustande, egal welcher Medienkanal genutzt wurde. Es gab ein paar Malversuche, es wirkte aber alles ein bisschen unbeholfen, es war eben Ausprobieren. Und wenn man dann nicht mitmachen konnte, dann hat man sich da vermutlich schnell sattgesehen. Aber jetzt so aus heutiger Perspektive schwierig zu beurteilen, weil wir jetzt wissen, wie es anders geht.

Interviewer: Aber haben Sie damals gedacht, wenn die das und das ändern würden, dann kämen da plötzlich sinnvolle Gespräche zustande? Oder war das dem Format auch irgendwie so eingebaut und wenn ja, warum? Dass es da Grenzen gab, wo man dann halt nicht zu wirklich sinnvollen Gesprächen gekommen ist?

Lothar Fritsch: Also ich hätte schon gedacht, dass man damit interessante Sachen machen kann, wenn man ein Publikum hat, dass trainiert oder dran gewöhnt ist reinzugehen und was miteinander zu machen. Das ist ja wie heute bei sozialen Medien oder wie früher im Usenet. Die Diskussion haben auch nur funktioniert, wenn alle mitgemacht haben auf gleichem Niveau. Und die Piazza Virtuale war wohl so neu, dass erstmal keiner so recht wusste, was er da mit den anderen Leuten machen soll.

Interviewer: Man könnte ja auch sagen, die Anrufzeiten waren zu kurz oder es wurden zu viele Leute durchgestellt oder es wurden zu wenig Leute durchgestellt.

Lothar Fritsch: Ich nehme mal an die Moderatoren mussten auch erstmal lernen, was so die optimalen Mitmachzeiten sind, damit was passiert.

Interviewer: Sind Sie denn selbst auch mal durchgekommen oder haben Sie es überhaupt versucht hartnäckig durchzukommen?

Lothar Fritsch: Ja, ich habe es schon versucht, ich kam aber leider nicht rein. Das Modem wählt ja automatisch, wenn man es so einstellt und sonst kann man nebenbei noch anrufen, aber reingekommen bin ich leider nicht.

Interviewer: Und wenn Sie durchgekommen wären, was wäre dann Ihr Versuch gewesen ein sinnvolles Gespräch anzuknüpfen, oder hätten Sie dann vielleicht auch, nachdem Sie mit Hallo festgestellt haben, dass Sie durchgekommen sind und im Fernsehen sind es dabei bewenden lassen. Oder was hätte man da rauskitzeln können aus dem Medium?

Lothar Fritsch: Das hängt ja auch sehr vom Gegenüber ab. Also man hätte zusammen ein Bild malen können oder mit dem Orchester herumexperimentieren natürlich. Ansonsten war ich ja chatten aus der Mailbox gewöhnt, und dann muss man halt auf jemanden treffen, der sich auch schnell dran gewöhnt und antwortet, für hin und her reden können.

Interviewer: Dann gab es natürlich auch noch diese Piazzettas, also so diese Ministudios, die aus anderen Städten gesendet haben. Haben Sie da irgendwas in Erinnerung, was Sie besonders gut oder besonders misslungen fanden?

Lothar Fritsch: Da habe ich nicht mehr viele Erinnerungen dran. Also es gab irgendwelche Videoclips zwischendurch, die chaotisch oder improvisiert wirkten, aber an den Inhalt erinnere ich mich eigentlich kaum noch.

Interviewer: Okay, also das hat nicht so einen Eindruck hinterlassen. Gehen wir vielleicht nochmal einen Schritt zurück das ist eine Frage, die ich leider am Anfang vergessen habe. Als Sie das erste Mal überhaupt das gesehen können Sie sich da noch irgendwie dran erinnern? Hat das noch so einen „hey wow Effekt gehabt, oder weil Sie vielleicht auch ein bisschen besser als viele Zuschauer verstanden haben, was da technisch dahintersteckt oder war das eigentlich von Anfang an von so einer gewissen Distanz geprägt?

Lothar Fritsch: Also ich habe da natürlich als Techniker draufgeschaut und Informatikstudent und was mich ja beeindruckt hat, ist dass die verschiedenen Medienkanäle und eine massive Anzahl Telefoninteraktionen da tatsächlich zusammen funktioniert haben, ohne dass die alle 30 Sekunden abstürzen. Da war halt Bewegtvideobild, Livebild live eingeschaltete Audiokanäle plus textueller Chat alles durcheinander. Das war natürlich neu. Wir kannten ja Modemkanäle oder Internetkanäle aus dem täglichen Umgang aber die funktionierten jeder für sich getrennt. Interaktives Video oder grafische Oberflächen, die gab es ja praktisch noch nicht zu dem Zeitpunkt.

Interviewer: Ja also dass man direkt als Zuschauer Dinge auf dem Monitor manipulieren oder bewegen konnte, wie zum Beispiel diese Mal- und Zeichenprogramme. Also das waren Sachen, wo Sie technisch einschätzen konnten, dass das eine komplexe Angelegenheit gewesen ist.

Lothar Fritsch: Das war es. Und auch die Möglichkeit theoretisch mit Leuten von weit entfernten Orten zusammen zu kommunizieren, live auf einer Videooberfläche, das war natürlich weit über dem was das Internet damals konnte. Und interaktives Redigieren von Bildern mit Zeichenwerkzeugen gab es damals auch noch nicht.

Interviewer: Gleichzeitig ist ja auch interessant, dass Sie da diesen ausführlichen Kommentar geschrieben haben, aber das Usenet ist jetzt wahrscheinlich auch nicht mehr in seiner ganz Gesamtheit irgendwie gespeichert und durchsuchbar und so weiter und so fort, aber hat es jetzt gleichzeitig in Ihrer Szene sage ich jetzt mal auch nicht so einen Kultcharakter angenommen. Also mich wundert ein bisschen, dass da nicht mehr zum Beispiel halt in so einer Gruppe wie Sie das da angefangen haben, diskutiert worden ist. Haben Sie das so unter Ihren Kommilitonen irgendwie mitbekommen? Dass das geguckt worden ist und wahrgenommen worden ist, oder waren Sie da eher so ein Einzeltäter sozusagen, der da großes Interesse entwickelt hat?

Lothar Fritsch: Also im Umfeld unter den Informatikstudenten, da waren wenige beeindruckt. Die waren eben Internet und Mailboxen gewöhnt und Downloads und lange Chats mit Leuten, mit denen man ein gemeinsames Thema hat und die meinten: „Ja nettes Fernsehspielchen, aber irgendwie mit den Leuten, da kann man nichts anfangen“. So war der Tenor, da hat man auch nicht länger drüber diskutiert. Das war anders in anderen Fachbereichen natürlich bei den Künstlern, Medienwissenschaftlern, die waren doch eher begeistert.

Interviewer: Da hatten Sie auch Kontakte. Im Saarland gibt es ja, glaube ich, da gibt es eine Kunstakademie. in Saarbrücken, wenn ich mich richtig erinnere? Also wen meinen Sie da konkret? Wer hat sich da so positiv geäußert?

Lothar Fritsch: Also einerseits hatten wir selber auf dem Campus der Universität des Saarlandes die Informationswissenschaft, die sehr früh dabei war beim Ausprobieren des World Wide Web. Und die hatten den ersten PC und Computer Pool für Studenten außerhalb der Informatik. Die Kurse auch mit uns gehalten hatten, schon relativ früh Mitte der 90er – und experimentierten mit Informationsverarbeitung, multimedialen Zugang und Metadaten und anderen Sachen. Dann hatten wir natürlich mit der Jane Scott an der Kunsthochschule eine Kooperation, da ging es um 3D Grafik auf einem unserer damaligen Superrechner an einem der Lehrstühle und da gab es immer wieder mal Gruppen von Kunst- und Informatikstudenten, die zusammen 3D Objekte programmiert haben.

Interviewer: Also da gab es in Saarbrücken auch so eine gewisse, nicht jeder Informatikstudent hatte solche Kontakte, also da gab es auch eine gewisse Nähe zu künstlerischen Team dann ganz offensichtlich.

Lothar Fritsch: Ja, also einerseits über die Fachschaft, hatte man halt Kontakten zu anderen Fachbereichen, die mal jemanden brauchten, der einen Internetkurs geben kann. Und durch diese Kollaboration zwischen der Rechnerarchitektur und der Kunsthochschule zur 3D Grafik gab es dann eine gewisse Gruppe Leute, die sich dann auch für die Ars Electronica interessiert haben und noch andere solche Sachen.

Interviewer: Interessant. Apropos Ars Electronica, die. Ponton oder Van Gogh TV Leute, die hatten ja vorher im Jahr davor bei der Ars Electronica dieses Hotel Pompino gemacht, das auch bei 3Sat gezeigt worden ist. Kannten Sie das oder wussten Sie so ein bisschen, wer dahintersteckt oder war das für Sie eigentlich ein Bildschirm ohne Kontext sozusagen den Sie da gesehen haben?

Lothar Fritsch: Ich persönlich hatte wenig Kontext damals. Ich habe die mitbekommen durch direkte Werbung im Kulturprogramm, im Fernsehen und es ging auch ein bisschen in der Mailbox-Szene rum und im Usennet, dass es da so ein Experiment gibt. Ich nehme mal an, dass die Künstlergruppe da auch sich in frühem viralen Marketing probiert hat. Weiß ich nicht mehr genau wie ich das eigentlich mitbekommen hatte.

Interviewer: Ja also, ich habe tatsächlich auch im Usenet viele andere Treffer, die ich da hatte als ich gesucht habe nach Piazza Virtuale und so war tatsächlich eine Mitarbeiterin, die das im Usenet dezidiert angekündigt hat. Was man ja auch sagen muss war nicht normal für die damalige Zeit. Das war eigentlich so ein Kanal, also ich glaube nicht, dass ich damals davon schon irgendwas wusste zu dieser Zeit, dass ging wirklich dann erst 94 mit dem Web los, ja. Okay, das war eigentlich fast auch schon so mein Fragenkatalog. Würden Sie denn denken, dass da heute noch irgendwie noch eine Existenzberechtigung für diese Art Kunst oder was würden Sie dazu sagen? Was ist das Erbe davon? Gibt es überhaupt ein Erbe, gibt es da irgendwas, was Sie später an anderer Stelle wiedergefunden haben oder aus dem Fernsehen oder ganz generell in anderen Medien das Sie wieder an die Piazza virtuale erinnert hat?

Lothar Fritsch: Also diese einfache Kombination von Kanälen, die sieht man ja heute ab und zu mal. Man kann ja Sonntagabends beim ARD Tatort dann nebenbei im Tatort-Onlineforum den Tatort kommentieren und mit anderen Leuten raten wer der Täter ist. Und das sieht mir technisch nicht wesentlich avancierter aus als damals. Ist die Videomixoberfläche natürlich moderner, aber ansonsten schickt man da über SMS oder soziale Medien, Twitter Kanäle seine Kommentare rein und kann sich ein Fenster aufmachen, wo die ganzen Texte auftauchen. Ganz ähnliches Konzept wie die Piazza virtuale.

Interviewer: Ja plus ein gemeinsames Thema, dass man auch immer was als Diskussionsthema hat ja. Und davon mal abgesehen was würden Sie sonst noch so als Erbe davon betrachten?

Lothar Fritsch: Also was mir jetzt auffiel, nachdem ich meinen eigenen Text aus dem Usenet gelesen habe ist, dass die holprigen Gehversuche der Teilnehmer, die ich damals geschildert habe das sehen wir ja heute auch wieder in neuen Medien mit Kommentarfeldern unter Zeitungsartikeln, wo die Leute erstmal nicht so richtig wissen was und wie man da diskutieren soll. Dann kommt das ebenso häufig zu Grenzüberschreitungen oder erstmal Höflichkeitskollisionen oder wie immer man das nennen mag. Und das war ja faszinierenderweise bei der Piazza virtuale auch so.

Interviewer: Das ist in der Tat auch so eine Hypothese, die bei uns so ein bisschen im Raum steht, dass da halt gewisse Aspekte der Netzkunst, Entschuldigung der Netzkultur, wie wir sie heute kennen, vorweggenommen worden sind. Können Sie das vielleicht noch ein bißchen vertiefen? Also was genau sehen Sie da an Parallelen?

Lothar Fritsch: Also einerseits trafen dort Leute aufeinander, die auf den ersten Blick nicht so richtig vermutlich miteinander reden konnten oder nicht wussten, was sie vom Gegenüber erwarten sollen. Dann gab es Leute, die sich anonym wähnten und sich auf Weisen benommen haben, die nicht voll öffentlichkeitsfähig sind. Zum Beispiel der der Erste, den ich gesehen habe, der das tastengesteuerte Malprogramm hat, hat dann nun mal gleich Hakenkreuze mitgemalt. So Tabubruchversuche, wie man das nennen sollte. Was wir interessanterweise ein paar Jahre später wieder sahen, als das World Wide Web und das Internet so bei Konsumenten bekannt wurden, da gab es ja die großen Modemzugangsprovider, America Online und Compuserve, für die massenweise CDs verteilt hatten wurden mit Einwahlsoftware, dass man reinkommt in das Internet, auch wenn man sich nicht auskennt mit Technik. Und da kam ja zum ersten Mal eine große Masse Leute ohne akademischen oder technischen Hintergrund in das Usenet rein und das hat die Diskussion dort sehr verändert. Da ging es weg von wohlstrukturierter, akademischer Diskussion hin zu kurzen Fragen, da war man auch schnell bei Unhöflichkeiten oder beim Rausgeworfen werden aus Gruppen, die von anderen Leuten dominiert waren. Da hat man dann eben, wie soll man sagen so das normale Durchschnittsvolk dann plötzlich getroffen.

Interviewer: Der ewige September nennt man das ja auch, weil im September immer die neuen Studenten an die amerikanischen Unis kamen und erstmal in Internetumgangsformen geschult werden mussten ja. Okay das also was wir heute als trollen bezeichnen würden oder eben an Grenzüberschreitungen, das wäre so ein Thema. Fällt Ihnen sonst noch irgendwas ein, was bei Piazza virtuale gegenwärtige Netzphänomene vorweggenommen hat? Wie sieht, es zum Beispiel mit Sexualität aus? Haben Sie sich da an irgendwas erinnert?

Lothar Fritsch: Da kann ich mich jetzt an wenig Explizites erinnern. Also das Geschlechterverhältnis war recht einseitig. Also Modem, Internet, Computerkommunikation, das waren damals wohl überwiegend Männer oder junge Männer. Es waren relativ wenige Frauen aktiv in der Szene.

Interviewer: Ja gerade da könnte man ja erwarten, dass die Hormone mit ihnen durchgehen und die sind halt immer wegmoderiert worden. Das ist vielleicht auch noch ein Thema, was in der Gegenwart eine große Rolle spielt, was man heute Content Moderation nennen würde sehen Sie da auch so Parallelen zur Piazza virtuale?

Lothar Fritsch: Ja, die Moderatoren oder Operatoren haben ja damals schon eingegriffen und Auswüchse dann gelöscht oder rausgeworfen oder die Applikationen einfach geresetet, damit ein neues leeres Bild gibt. Das ist ja wohl heute auch der Weg, den alle verantwortlichen Portalbetreiber gehen müssen, um ein bisschen aufzuräumen. Man könnte natürlich darüber philosophieren wo kommt es her, dass Leute sich so ungewöhnlich benehmen? Aber da kann man vermutlich lange drüber streiten. Ist es anonymer Zugang ist es die Konfrontation mit einem Kommunikationskanal, für den man kein Benehmen gelernt hat und für den es keine sozialen Konventionen gibt? Das wird man so schnell vermutlich nicht klären.

Interviewer: Also faktisch war es ja so, dass da in Kassel halt immer drei Leute vor diesem in diesem Sendestudio saßen, dass die sich selbst zusammengelötet hatten. Und eine von diesen Personen war tatsächlich von 3Sat, das war eine Redakteurin. Die war explizit da hingesetzt worden, ziemlich am Anfang, um halt zu kontrollieren, dass da Diskussionen nicht aus dem Ruder laufen und die hat dann halt bei den Anrufern beispielsweise Leute aus der Leitung gekickt. Wussten Sie sowas oder haben Sie sowas irgendwie vermutet oder war das eine vollkommene Blackbox und man hat bloß gemerkt, jemand hat aufgehört rumzupöbeln?

Lothar Fritsch: Also angekündigt war es wohl nicht. Dass aber natürlich Leute, die angefangen haben, sich pöbelnd oder anderweitig daneben zu benehmen, dann einfach verschwunden sind und durch andere ersetzt worden sind – da konnte man sich relativ schnell denken, dass da irgendwo jemand sitzt, der Knöpfe drückt.

Interviewer: Und fanden Sie das gut oder fanden es gibt ja auch diese Einstellung so jeder muss so vollkommene Freiheit im Internet die Regeln der profanen Welt gelten da nicht, da kann jeder machen, was er will. Wo würden Sie dastehen?

Lothar Fritsch: Ich habe das nicht wirklich als Internet und Freiheitsthema empfunden. Das Ganze war ja schließlich im öffentlich-rechtlichen Fernsehen auf der Mattscheibe zu sehen landesweit. Hatte man da schon Verständnis für, dass irgendein Redakteur sich verantwortlich fühlen sollte.

Interviewer: Okay, dann das war es schon. Dann bedanke ich mich recht herzlich für das Gespräch. Gibt es noch irgendwas, was Sie noch loswerden wollten zu dem Thema, jetzt aus dem Rückblick.

Lothar Fritsch: Also ein bisschen so eine philosophische Perspektive. Das war das erste Experiment, an das ich mich erinnern kann, das klassische Medienkanäle mit neuen verbindet, um so eine virtuelle Umgebung zu erzeugen. Und das war lange bevor alle Matrix kannten oder den Newromancer oder von virtuellen Realitäten geredet haben. Da muss ich schon so ein bisschen überlegen, heute sind wir da, wo Apps und Fernsehen und Radio und Livestreaming und Algorithmen, die mich besser kennen als ich selber alle zusammenwachsen. Insofern denke ich, dass war schon ein Pionierexperiment. Erinnert mich ein bisschen an Fahrenheit 451 von Ray Bradbury, wo man sich vier Fernsehwände ins Wohnzimmer stellt und dann Mitglied der virtuellen Familie ist.