Interview mit Michael Bielický, 26.06.2018

Siehe auch: Piazzetta Prag

Tilman Baumgärtel: Gut, wunderbar. Dann gehen wir gleich in medias res. 1992 war ja diese globale Ausstrahlung über Satelliten von Piazza virtuale. Wie bist du reingeraten oder vielleicht genauer gesagt erst mal, wie bist du überhaupt mit dieser Gruppe in Kontakt gekommen, die das betrieben hat?

Michael Bielický: Also da ­­müssen wir noch ein paar Jahre zurückfahren, nämlich in das Jahr 1988 nach Osnabrück. Da gab es das European Media Art Festival, das inzwischen auch schon einige Jahre auf dem Buckel hat. Und da war auch der Hentz, Mike Hentz, respektive der Karel Dudesek, der im weitesten Sinne auch mein Landsmann ist, weil er tschechische Eltern hat. Ich war mit denen in Kontakt und sie haben mich eingeladen bei der damaligen Aktion in Osnabrück mitzumachen – das hieß auch schon damals Van Gogh TV, im Ponton Media Art Lab. Und sie hatten einen Medienbus und dort eine Art alternatives Fernsehen kreiert, das aber einen Seitenweg hatte. Nachts ist man nämlich mit dem fertigen Material auf dem Motorrad in den Wald oben auf den Berg gegangen. Und es gab dort einen Piratenfernsehsender. Wir haben in der Stadt nachts Plakate geklebt: tunen Sie Ihren Fernseher auf eine bestimmte Frequenz. Und haben dann schwarz gesendet. Und das war die erste Begegnung. Und da kommt auch noch die Begegnung, das muss ich erwähnen, mit Vilém Flusser.

Interviewer: Kommen wir gleich drauf zurück. Aber ich meine, 88 stand die Mauer noch. Und du hast im Ostblock gewohnt.

Michael Bielický: Nein, ich habe nicht im Ostblock gewohnt. Ich bin 1969 mit meinen Eltern raus. Und ich bin seit meinem 15. Lebensjahr – ich habe seitdem in Düsseldorf gelebt und habe Medizin studiert. Abgebrochen, bin dann in die USA und dann endlich mit 30 Jahren an die Akademie. Und am Ende der ganzen Geschichte bin ich bei Nam-June Paik gelandet. Und das war sozusagen mein Input und meine Grundausstattung, wenn man so sagen kann.

Interviewer: Okay, da käme die Bekanntschaft her. Vilém Flusser sehe ich jetzt nicht. Aber vielleicht kannst du mir da ein Licht aufstecken. Sozusagen, was der Flusser so gesagt und geschrieben hat, da gab es Bezüge zu dem, was die gemacht haben. Denn eigentlich ging es ja da um technische Bilder. Nein?

Michael Bielický: Ich würde so spontan sagen, nein. Allerdings: ich wusste nicht wer er ist. Aufgrund seines Akzents, der ähnlich meinem Akzent war, habe ich ihn bei der Anmeldung gefragt, woher er kommt. Da sagte er, das hat schon Platon sich gefragt. Und dann kamen wir ins Gespräch. Und dann hat er gefragt, was ich da mache. Und ich habe gesagt: Piratenfernsehen. Und da hat er große Augen gemacht und ist spontan mit mir in diesen Bus gegangen. Und hat sich das genau angeschaut und war begeistert. Aber, um deine Frage zu beantworten, ich glaube doch, dass er insgesamt zu dem Tun, wie du richtig sagst, zu diesen technischen Bildern und diesen Experimenten mit unterschiedlichen Formaten, alternativem Fernsehen, Piratenfernsehen und so weiter – dazu würde ich sagen: hatte er unmittelbar – noch – keinen Bezug.

Interviewer: Okay. Dadurch hast du auf jeden Fall so diesen Nukleus der Gruppe, die dann später Piazza virtuale gemacht hat, kennengelernt. Wie würdest du diese Leute so beschreiben? Was ist das für eine Gruppe gewesen?

Michael Bielický: Das ist eine Frage, über die ich sogar heute manchmal nachdenke. Es war sicher eine energiegeladene, starke Gruppe von starken Individuen, die Visionen hatten, die auch natürlich anarchistische Tendenzen hatten, aber auch technikaffin waren – oder: verstanden haben, obwohl es noch primär analog zuging, dass die technischen Medien und die Medien an sich ein relativ frisches Tool für die Künstler sind. Aber in einer anderen Art, als es eben die sogenannten Pioniere wie Nam-June Paik und andere Videokünstler gemacht haben. Und: dass das Medium im Grunde strategisch eingesetzt werden kann – oder auch: durchaus, wie sagt man, taktisch. Sie haben es also sehr früh als ein taktisches Medium erkannt und benutzt. Und da würde ich sagen, dass sie in der Hinsicht wieder Pioniere waren. Natürlich gab es auch Parallelen in den USA, wo man die Medien auch als „taktisches Medium“ eingesetzt hat. Aber hier in Deutschland war das damals noch einmalig: ich würde wagen zu behaupten, dass das damals durchaus ein relativ weit gefächerter Zugang zu dieser Idee war, der Idee, das Medium als Aktivisten, aber auch Anarchisten, insgesamt das Kunstmedium im Gesamtkonzept zu sehen.

Interviewer: Okay, also du hast die Anfänge mitbekommen in diesen Piratensendern. Hotel Pompino war dann das nächste richtig große Projekt.

Michael Bielický: Nein.

Interviewer: Warst du da involviert? Hast du auch gar nicht gesehen?

Michael Bielický: Nein. Habe ich zwar mitbekommen, aber nur von Weitem. Aber ich selbst war nicht dabei. Erst dann bei Piazza Virtuale.

Interviewer: Okay, dann kommen wir gleich auf die Vorbereitung dieses Projekts zu sprechen. Wie bist du da angesprochen worden, wie musstest du dich da einführen, was wurde von dir erwartet?

Michael Bielický: Ich war wahrscheinlich der richtige Mann am richtigen Ort. Denn ich habe gerade eine frische – man muss sich vorstellen: ich bin mit 30 an die Kunstakademie Düsseldorf. Mit 36 bin ich mehr oder weniger fertig. Und mit 37 bekomme ich eine Professur in Prag – direkt nach der Öffnung. Schon 1990 bahnt sich das an, 1991 fange ich dann an der Kunstakademie Prag an. Und ich gründe eine Abteilung, eine Videoklasse. Erst später hieß das dann Neue Medien. Und ich war einfach am richtigen Ort zur richtigen Zeit – die haben sich für Prag interessiert und ich war der Leiter und Aufbauer dieser Abteilung und dann hat mich, frage mich nicht wer, angesprochen, ob wir da mitmachen würden. Und ich habe spontan zugesagt, obwohl ich kaum wusste, was mich erwartet und hatte dazu noch relativ alte Studenten. Und wir haben dann dieses Studio, das bisschen Technik, die wir da hatten, aufgebaut. Man hat uns auch ein sogenanntes Picture Phone zur Verfügung gestellt, das für die Zeit eine Wundertechnologie war: das war das erste Mal, dass man Bilder über einen regulären Telefondraht schicken wollte und konnte. Und das war schon revolutionär.

Interviewer: Bevor wir auf diese technischen Details zu sprechen kommen vielleicht noch mal einen Schritt zurück. Also wenn man sich so die Piazzettas anguckt, gab es in Frankreich eins, in Italien zwei. Aber in anderen EU-Ländern eigentlich nicht, dafür aber in Moskau und in Riga und in Prag. Du hast ja gerade auch schon gesagt, da gibt es auch so einen Zusammenhang mit dieser Nach-Wende-Dynamik. Kannst du das ein bisschen ausführen.

Michael Bielický: Also da muss ich vielleicht ein bisschen ausholen. Ich denke, dass diese Wende, diese Abschaffung oder der Zusammenbruch des Kommunismus und eben dieses Aufkommen der Neuen Medien zufällig zur gleichen Zeit passieren. Und da waren sowohl der ehemalige Osten als auch der Westen auf der gleichen Augenhöhe und auch auf der gleichen Startlinie. Und da gab es tatsächlich im gesamten Osten so eine Begeisterung und eine Annahme von diesen neuen Medien – und Hunger danach. Und man war sich vielleicht gar nicht bewusst, dass der Westen noch nicht so weit war – man hatte trotzdem oft einen Komplex gegenüber dem Westen. Aber ich denke, das war einfach Zufall, ein Geschichtszufall, dass ein ganzer politischer Block, der Ostblock, zusammenbricht und gleichzeitig diese neuen Technologien oder eben solche Veranstaltungen wie eben Piazza aufkamen. Wir hatten im gleichen – oder sogar ein Jahr davor – ein anderes, kaum bekanntes, aber wichtiges Projekt. Das war auch ein sehr frühes digitales Netzwerk: IPI, International Painting Interactive von Frau Vesna, ja, so hieß die.

Interviewer: Viktoria.

Michael Bielický: Viktoria Vesna war da involviert – in Los Angeles. Und wir konnten gemeinsam über Computer und Modems Bilder schicken – nach Irgendwohin. Und das war im Grunde ein – noch vor Piazza Virtuale – auch so ein Netzwerkprojekt. Und ich kann mich noch erinnern: am Anfang des Ostblocks waren diese Modems, das war eine verbotene Ware für den Osten. Weil: das war sozusagen militärische Ware. Und ich habe zwei Studentinnen nach München zu Silicon Graphics geschickt und die haben im Rucksack zwei solche heavy Modems mitgebracht und sozusagen nach Tschechien geschmuggelt, damit wir dieses IPI, dieses International Painting Interactive machen konnten. Und ich weiß,

unter den Studierenden, die mehr meine Partner als Studenten waren, da war so eine Begeisterung. Und das war so eine natürliche – ich weiß nicht – das war plötzlich da. Und man hat das angenommen und damit experimentiert. Und wir waren uns vielleicht gar nicht dessen bewusst, dass es durchaus später auch historisch wird.

Interviewer: Du hast gerade schon dieses Picture Phone erwähnt. Also um mal ganz kurz das technisch zu klären. Die Piazza, also wie viele Piazzettas war auch die Piazzetta in Prag über dieses Picture Phone über ein ganz normales Telefonkabel mit Kassel verbunden? Und das hat dich als Videokünstler nicht enttäuscht, die Bildqualität beispielsweise.

Michael Bielický: Umgekehrt, dieser Moment, der Instant, diese Realtime – oder das Echtzeiterlebnis, sowieso das Bild, aber auch die Stimme: das hat es vorher nicht gegeben. Denn man muss sich überlegen: die Stimme geht auch durch die zweite Telefonleitung nach Kassel. Von dort ging es zu 3Sat und dann haben wir es über das Fernsehen empfangen. Und da war ein Delay von vielleicht zwei, drei Sekunden. Und ich kann mich noch heute erinnern, wie wir dasaßen: aufgeregt. Und zum ersten Mal unsere Stimme, diese Delay-Stimme gehört haben. Und wir haben gezittert. Wir haben auch, glaube ich, viel Alkohol zu uns genommen, damit wir runterkommen. Ich kann mich sogar noch erinnern, wie diese Ankündigung, dieser kleine Trailer, der Music-Trailer einsetzte – da fing schon das Herzklopfen an. Man war konditioniert. Jetzt sind wir gleich live. Und sowohl das Bildliche als auch das Akustische war ein irres Erlebnis und eine irre Aufregung. Bei allen Beteiligten war der Puls ziemlich hoch.

Interviewer: Diese Musik ist auch richtig gut, die hat was so was wie Star-Wars-Thema, nach wie vor.

Michael Bielický: Absolut. Und ich höre sie noch jetzt, obwohl ich sie wahrscheinlich Jahrzehnte nicht gehört habe. Ich weiß genau, wie sie klingt. Phänomenal.

Interviewer: Und das heißt, die Piazzetta bestand aus dir und einer Gruppe von enthusiastischen Prager Kunststudenten.

Michael Bielický: Und wir haben immer wieder Gäste eingeladen. Wir hatten zum Beispiel spontan einen – ich kann mich erinnern – spontan mit einem der damals renommiertesten, jungen Philosophen eine philosophische Beratung: wie wenn man zum Arzt geht. Man konnte bei uns eine Stunde lang philosophische Fragen stellen. Philosophische Beratungsstelle haben wir das genannt. Wir haben also immer wieder auch Leute von außen gehabt, damit es nicht nur unsere eigene Geschichte ist. Und wir haben versucht – wir haben auch versucht zu faken. Ich hatte so kleine Pinguine, oder diesen Kopf. Das wären so Relikte von dieser Aktion. Wir hatten eine Landschaft, als wenn sie vom Nordpol wäre, und haben behauptet, dass wir eine Echtzeitleitung zum Nordpol haben. „Und da sehen Sie die Pinguine, die stehen da.“ Das sind so kleine Puppet-Pinguine. Und haben so versucht zu faken. Natürlich fast mit einer kindischen Naivität, dass wir sozusagen auch eine Live-Schaltung zum Nordpol haben.

Interviewer: Und ihr konntet aber gleichzeitig auch wiederum sehen, was gesendet worden ist?

Michael Bielický: Richtig.

Interviewer: Und ich habe jetzt noch nicht die verschiedenen…

Michael Bielický: Aber warum: das ist interessant, wenn ich darf. Das war eben das Wunder des Postkommunistischen. Ich weiß nicht, ob es überall so war, aber in Prag war das so. Wir waren uns dessen bewusst: viele Leute hatten noch kein Satellit. Damals wurde ein ganz neues Programm geschaffen – es gab nur zwei, unter den Kommunisten: zwei Fernsehsender – und plötzlich hat ein Drittes aufgemacht. Wir sind zum tschechischen Fernsehen gegangen und haben gesagt: „Passen Sie auf, hier findet vier Monate ein Kunstfernsehen statt – nachts senden Sie sowieso nicht, können Sie nachts nicht einfach das 3Sat-Signal anschließen. Und abends terrestrisch!“ „Machen wir.“ Muss man sich vorstellen. Geh mal hier und sag mal den Fernsehanstalten: „Können Sie vom Satelliten kurz einen Down-Link senden?“ Das war möglich, das war eben die Möglichkeit der Unmöglichkeit. Und das war irre. Aber auch das war für uns, die mitmachten, selbstverständlich. Wir haben das gar nicht hinterfragt. Erst rückwirkend dachte ich: Wahnsinn.

Interviewer: Also das heißt, das ganze dreimonatige Projekt ist auch in Prag im…

Michael Bielický: Über terrestrisches…

Interviewer: …… (unv.) Fernsehen. In Prag oder in der ganzen Tschechoslowakei?

Michael Bielický: Ich meine, in der ganzen Tschechoslowakei. Hammer! Hammer!

Interviewer: Dass 3Sat sich darauf eingelassen hat…

Michael Bielický: War schon ein Ding. Ja.

Interviewer: Aber dass das dann auch…

Michael Bielický: Aber die waren so offen, die sagten: „Warum nicht?“

Interviewer: Also das heißt, du konntest das gar nicht über Satellit, sondern einfach mit deinem ganz kleinen Fernseher in der Ecke dir angucken.

Michael Bielický: Genau.

Interviewer: Und das ist, glaube ich, im Laufe der Sendung geändert worden. Am Anfang war es ja so, dass die Piazzettas eigentlich immer einer von drei oder vier Rechtecken auf dem Monitor gewesen ist.

Michael Bielický: Genau.

Interviewer: Es gab einen Chat, rechts wurden irgendwelche Faxe, links waren die Piazzetta. Wie fandest du das, dass du so ein animiertes Rechteck von Dreien bist? Hättest du nicht lieber den ganzen Monitor…

Michael Bielický: Du, ich glaube, dass ich damals intellektuell – ich hatte diese Reflexionsfähigkeit nicht. Das war so eine unmittelbare Begeisterung. Und ich glaube, dass ich gar nicht diese analytische – ich fand das einfach cool. Ich glaube, ich habe das gar nicht als Nachteil gesehen. Ich wage zu bezweifeln, dass ich mir da überhaupt Gedanken gemacht habe. Das war so, das war das Format. Und einfach dabei zu sein und diese Begeisterung und diese Vorbereitung mitzuerleben – natürlich teilweise auch sehr amateurhaft, aber auch spielerisch – das war irgendwie das eigentliche Ereignis. Und: irgendeine mediale Formanalyse hat nicht stattgefunden.

Interviewer: Erzähle mal ein bisschen von der täglichen Arbeit. Habt ihr Redaktionssitzungen gehabt? Wie ist das vorbereitet worden, wo kamen die Ideen her? Warst du der Oberzensor? (unv.)

Michael Bielický: Nein, es war schon eine kollektive Sache. Großer Chaos-Club. Trotzdem hatten wir die Verantwortung. Dachten, wir können nicht unvorbereitet. Weil – es gab ja inhaltliche Tendenzen bei den Piazzettas – also wollten wir zumindest grob thematisch anschließen, dass wir nicht völlig wie die Deppen aussehen. Aber es war trotzdem sehr locker. Ich meine – das ist natürlich so lange her – aber ich meine mich zu erinnern, dass wir uns mindestens vorgenommen haben, irgendwie ein Thema, ein bisschen einen roten Faden zu finden. Aber es war auch sehr offen und improvisiert. Ein bisschen Vorbereitung war da. Kurz: wir haben uns nicht übernommen.

Interviewer: Aber es musste auf Englisch sein, weil es ja für ein internationales Publikum war.

Michael Bielický: Richtig.

Interviewer: Zu der Zeit jetzt vielleicht auch nicht so die…

Michael Bielický: Das ist richtig, ich konnte dann einigermaßen oder okay Englisch. Das ist eine gute Frage. Ich hatte einen Australier da – David Christoff –der hat da viel mitgemischt. Und der war einer meiner Hauptpartner bei den Auftritten. Das fällt mir jetzt ein – siehst du: gut, dass du das fragst, habe ich völlig vergessen, dass es in Englisch war. Aber: stimmt. Und die Studenten, das war sehr durchwachsen: manche konnten ein bisschen, manche gar nicht Englisch. Dann hatte ich eine Japanerin dabei, die Keiko Sei, ich weiß nicht, ob dir die was sagt. Die hat in Rumänien gelebt, dann in Prag. Und hat damals mit Peter Weibel das wichtige Buch Von der Bürokrative zur Telekratie über Merve herausgebracht. Sozusagen die TV-Revolution in Rumänien. Und hat auch sehr früh Medien untersucht, sogar während der Revolution: was für eine Rolle alternative Medien gespielt haben während der ganzen Revolution im ehemaligen Osten.

Interviewer: Und das würdest du in einem Zusammenhang auch sehen?

Michael Bielický: Ja, ich glaube: es ist so paradox. Ich will jetzt nicht zu sehr ausholen, sonst würde das alles sprengen. Aber die Tschechen waren an sich, was ihren Kino- und vor allem ihren erweiterten Kinobegriff angeht – sogar bis zu einer Vision, wie digitale Medien einmal aussehen werden – total innovativ. Sie erfanden das erste interaktive Kino. Sie haben Multiscreens gehabt. Die haben non-lineare, partizipative, visuelle Formate – eben diesen Kinoautomat – realisiert, aber auch: Polyvision. Ich benutze den Begriff des Expanded Cinema – im Grunde war das ein unglaublich experimentierfreudiges Land. Sie haben im Grunde eine Vision von alternativen Medien gehabt, alternativ zum normalen Kinobild. Und zwar wie gesagt, mit komplexen Maschinen – alles analog: physische Geräte. Ich habe meinen Studenten gerade gestern in meinem Seminar wieder einiges gezeigt. Und da sieht man: diese Affinität. Die Tschechen hatten schon immer diese Affinität zu Medien. Das geht bis ins Prag von Rudolph II., ins Renaissance-Prag zurück, wo man tatsächlich mit Virtualität – natürlich primitiver Virtualität – gearbeitet hat. Das heißt, mit anderen Worten: Prag hatte immer so eine Tradition in der Suche nach alternativen Raum-Zeit-Erfahrungen.

Interviewer: Ich erinnere mich super an Laterna Magica, das war ja auch so…

Michael Bielický: Das gehört ganz sicher dazu. Laterna Magica ist ein Phänomen. Aber es gab schon vor dreißig Jahren einen Vorläufer von Laterna Magica, der hieß Cinema-Theatrograf: im Grunde ein Vorläufer von Laterna Magica, wo auch schon Projektionen und Schauspieler kombiniert wurden. Und es gibt natürlich in Prag dieses berühmte Jahrhundertwende-Panorama – wovon es nicht viele gibt. In Warschau und Breslau gibt es auch noch so ein gemaltes 360 Grad Panorama: primitive Virtualität. Aber ich bin in den 60er Jahren als Kind auch mit meinem Vater in einen Amusement Park gegangen, wo es ein russisches 360-Grad-Kino gab. Gut, jetzt habe ich doch ausgeholt. Sorry.

Interviewer: Gut, also eine hohe Affinität. Zurück zur konkreten Situation. Wir hatten schon über die Studenten gesprochen. Das Ganze war physisch, genau, darüber sollten wir vielleicht noch kurz sprechen, das war physisch in der Kunstakademie. Aber hätte ja theoretisch auch bei dir zu Hause sein können. Denn alles was man braucht, war ein Telefonanschluss.

Michael Bielický: Jein, sage ich. Weil: es gibt auch Fotos davon. Die Kunstakademie ist ein architektonisches Juwel. Das ist ein langes Gebäude mit Ateliers aus Glas: die Glasdecke geht in die Fassade über, in Richtung Norden, damit Alle gleichmäßiges Licht haben. Und neben der Kunstakademie ist für die Architektur von zwei der berühmtesten, modernistisch-kubistischen Architekten, ein extra Gebäude gebaut worden – der eine ist während des Baus gestorben. Und ich hatte das Glück, in der zweiten Etage dieses Juwels mein Atelier für Video und später Atelier für neue Medien zu eröffnen: überall Glas, Licht von oben und von unten, mit einem Blick in einen Garten. Und das war ein Raum, ich würde sagen, sicher größer als der hier und mit einer Höhe sage ich Dir – insgesamt 250 Quadratmeter. Da hatten wir dann Raum, das war dann eine Art Studiosituation. Wir hatten da unseren ganzen technischen Aufbau und man konnte sich dort dennoch bewegen oder auch was schauspielern – insofern: das war schon ein idealer Ort. Das war schon Glück in so einem historisch beladenen Raum zu sein.

Interviewer: Wie sah es mit den Kollegen an der Kunstakademie aus? Hat die das irgendwie interessiert?

Michael Bielický: Nein, man war eher unter Verdacht, man hat es in der Akademie kaum wahrgenommen. Aber auch auf diesen Videotapes – und das ist vielleicht doch interessant: gibt es eine Pressekonferenz. Und das hat der Rektor, ein ehemaliger Fluxus, der einzige Ostblock-Fluxus, Milan Knizak ermöglicht: er hat mir geholfen. Also der Rektor hatte mehr Verständnis als die Kollegen. Und wir haben eine Pressekonferenz gemacht, da sitzt auch Mike Hentz, der ehemalige Fluxus Knizak, ich, und da kommen dann Journalisten. Und wir versuchen, denen zu vermitteln, was wir vorhaben. Die hatten, glaube ich, nichts verstanden. Also ich hatte auch nur ein Halbwissen, was uns überhaupt erwartet. Aber musste auf Profi machen und souverän auftreten. Und es gibt eigentlich irre Zeitungsbilder. Jetzt erinnere ich mich. Schade, dass ich es nicht mitgebracht habe. Aber das kann ich dir auch gescannt zukommen lassen: da gab es ganze Seiten, habe ich aus manchen Zeitungen gesammelt, die den Bildschirm als ein, wie heißt das, also eine Piazza, wie sagt man in Deutsch Piazza?

Interviewer: Marktplatz.

Michael Bielický: Marktplatz. Also den Bildschirm als Marktplatz und meinen Kopf ziemlich reißerisch aufgemacht haben – es hat doch schon Presse bekommen. Und es gab auch in Tschechien viele Anhänger davon. Insofern, diese terrestrische Geschichte, die hat relativ viele Leute erreicht, die dann richtige Fans davon wurden. Aber wir hatten nie richtig viel Aufmerksamkeit, wir haben uns auch gar nicht dafür interessiert. Irgendwie war das doch auch egal, ob das jemand guckt oder nicht.

Interviewer: Bist du denn in der Zeit auch mal nach Kassel gefahren, um da vor Ort zu gucken, wie produziert wird?

Michael Bielický: Ich meine, ja. Ich kriege das nicht zusammen. Ich meine, dass ich in Kassel war – weil, ich weiß, der Bus, dieser lange Bus, den sie auch in Osnabrück hatten – sie hatten zwei Projekte bei den documenta in Kassel. Korrigiere mich, wenn du es weißt. Und ich weiß jetzt nicht bei welchem, ich kriege das nicht zusammen. Und natürlich, ich habe auch diese berühmte Dokumentation vor Augen, die halbstündige, diese VHS-Kassette, wo auch dieser Bus auftaucht. Es verschwimmt und ich kriege das nicht zusammen. Aber ich meine, ich bin dort hingefahren.

Interviewer: Aber du hast jetzt keine (unv.)

Michael Bielický: Nein.

Interviewer: Gut. Einerseits hattest du Unterstützung von ganz oben, nämlich von Milan Knizak, dem Rektor. Andererseits ging das Abenteuer dann überraschend früh zu Ende. Kannst du darüber sprechen?

Michael Bielický: Richtig. Na ja, das war ein etwas unglücklicher Umstand. Anscheinend war die Kommunikation zwischen der Hochschule und mir nicht optimal. Und dann hieß es plötzlich, jetzt wird über den Sommer, während des Sommersemesters, renoviert – das heißt: gestrichen, alles muss raus, alle müssen raus. Und dadurch war erstmal Ende der Geschichte. Was natürlich den Kollegen Auftraggebern nicht gefallen hat, weil sie – natürlich, verständlicherweise – gehofft haben, dass wir mehr Konsistenz haben werden, so wie die anderen Piazzas – und eben unsere Beiträge leisten werden. Und dann kam es anders. Natürlich: auf die Idee, irgendwo in eine Wohnung zu gehen – ehrlich gesagt kamen wir darauf nicht. Das war irgendwie so eng mit dem Haus verbunden. Und dann gab es eben sehr viele unangenehme und negative Reaktionen: aber auch nachvollziehbare. Dass wir unverantwortlich wären. Und ich habe dann versucht, mich zu verteidigen. Und es ist ein bisschen mit schlechter Laune zu Ende gegangen. Aber wir sind dann trotzdem später im Guten gewesen. Das war eben ein Moment, der unangenehm war – sicher – für alle Beteiligten und auch für mich: teilweise heftig. Ich hatte da auch wirklich sehr unangenehme Momente mit manchen Akteuren, die dann extra nach Prag gekommen sind. Dass wir unsere Pflicht nicht erfüllen.

Interviewer: Was für Ansprüche hatten die dir gegenüber eigentlich? Du hast ja wahrscheinlich keinen Vertrag unterschrieben?

Michael Bielický: Keinen Vertrag.

Interviewer: Es ist kein Geld geflossen?

Michael Bielický: Nein. Kein Geld, kein Vertrag.

Interviewer: Kannst du mal als ganzen Satz sagen?

Michael Bielický: Also wir hatten keinen Vertrag geschlossen, es ist auch kein Geld geflossen. Es war eine freiwillige – aber auch – natürlich: man hat sich auch als Auserwählter gefühlt, dass man da mitmachen kann. Oder: man hat das gerne angenommen. Aber man wusste, dass es ein idealistisches Ereignis ist, von dem Niemand erwarten kann, dass er da was davon haben wird. Und höchstens: es war eine moralische Verpflichtung. Aber ich glaube, wir waren alle in einer Art, wie soll ich sagen, Halbtrance, wenn man so will. Man war sich gar nicht aller Konsequenzen bewusst – man war plötzlich mittendrin. Plötzlich hat man gesendet, plötzlich hat man seine Stimme gehört. Es war fast wie eine Droge, eine komische Droge. Und man hat wenig reflektiert. Man hat gemacht.

Interviewer: Wie würdest du, wenn du das jetzt so rückwirkend betrachtest, das zunächst mal für dich selbst betrachten? Was hat dir das gebracht, was war, also was du da mitgenommen hast?

Michael Bielický: Ich reflektiere eher über das Gesamtereignis, über unsere Erfahrung. Die war schon sehr spezifisch, die habe ich versucht atmosphärisch zu beschreiben. Aber ich würde schon sagen, dass das ganze Ereignis ein recht einmaliges Ereignis war – und vielleicht auch ein Meilenstein. Aber vielleicht ist Meilenstein das falsche Wort: Meilenstein würde auch heißen, dass sich das dann später irgendwie etabliert hat. So was hat sich nie wieder etabliert. Insofern ein recht einmaliges Ereignis, das wirklich eine starke Vision hatte. Und auch wenn die Umsetzung – natürlich – anarchistisch bis destruktiv und antiinformativ war: es war schon eine Vision, von der alle Akteure überrascht wurden.

Interviewer: Viele, die es gesehen haben, fanden es ja auch banal. Es gab ja auch diesen Ausdruck vom Hallo-TV.

Michael Bielický: Ja. Natürlich hatte das diese Komponente: „Hallo, wer bist du, wo bist du, was machst,“ bla, bla, bla. Ja. Trotzdem: wenn man sich von diesen Momenten der Banalität für einen Moment frei macht und sich das Ganze als Konstrukt, als die Möglichkeit, den Zuschauer von zu Hause zu involvieren vorstellt – ich würde schon behaupten, trotz der Banalitäten, trotz des sogenannten Hallo-TVs, war es ein recht einzigartiges und durchaus auch modellhaftes Ding. Und es ging nicht darum, zu beweisen, dass es funktioniert. Sondern darum, dass es möglich ist. Natürlich hing das auch mit dieser einzigartigen Mentalität, dieser wilden, draufgängerischen, aber auch mutigen und auch verrückten und manchmal auch daneben-en Mentalität zusammen. Irgendwie hing das mit der Konstellation der Leute zusammen. Und deswegen war das auch so einmalig.

Interviewer: Um das Ganze abzuschließen, wenn man es jetzt aus dem Licht der Gegenwart oder aus der Perspektive der Gegenwart betrachtet, der Entwicklung von Internet und sozialen Medien, wie würdest du das ganze Projekt einordnen?

Michael Bielický: Also man muss sich natürlich in die Zeit versetzen – auch wenn es dann nicht mehr so lange gedauert hat – aber 1992 lebten wir noch in einem Bewusstsein, für das es die vernetzte Welt, allein in den Ansätzen, wie wir sie heute oder auch schon später nach 1995 gekannt haben, nicht gab. Und insofern – ich kann nur wiederholen – war es ein historischer Meilenstein. Ein Ereignis. Gut, dass es jetzt Jemand mit diesem Abstand betrachtet, analysiert und auseinandernimmt ist klar. Aber natürlich: jetzt, nachdem wir jetzt in dieses totale Internetzeitalter gekommen sind: vielleicht hat es für die Jüngeren einen Wert. Und bei den jüngeren Generationen, wenn ich es den Studenten gezeigt habe, entsteht vielleicht nicht immer sofort ein großer Eindruck, aber dann beeindruckt doch wieder diese Dreistigkeit, dieses Anarchistische, dieses Unkontrollierte, auch dieses Banale, dass so was möglich war, auf einem Fernseher zu erfahren. Das ist schon eine Einzigartigkeit, die man auch heute in der Form noch immer nicht kennt, weil eben das Internet kein Fernsehsender ist. Das hat schon einen Wert: einen Stellenwert. Wie gesagt, ich kann nur wiederholen: es war recht einmalig und bizarr und komisch. Und alles andere als perfekt. Und durchaus auch banal. Aber das in der Form – auch mit den damaligen zugänglichen Technologien – zusammen zu bringen: das hat nachher niemand mehr gewagt.

Interviewer: Aber wenn du dir jetzt so die Netzkultur der Gegenwart vor Augen hältst, wo es Shitstorms gibt, wo es Fake News gibt, wo es Trolle gibt und natürlich auch positive Aspekte, virtuelle Communities, die zusammen Enzyklopädien schreiben, siehst du so Berührungspunkte mit dem, was damals passiert ist?

Michael Bielický: Also es ist insofern ein Berührungspunkt, weil man den Leuten zum ersten Mal mit einem Massenmedium das Gefühl einer Vernetzung gab, ein Erlebnis einer Vernetzung. Und ich denke, das ist schon das – natürlich – was wir heute leben. Wo es eine Selbstverständlichkeit ist – bei der jungen Generation sowieso. Aber dieses Vernetzungsgefühl, dieses Bewusstsein dafür, dass ich plötzlich mit anderen verbunden bin: darauf kommt es an. Und dass ich über diese Piazza, über dieses öffentliche Fenster verbunden bin – ich denke schon, dass das eine Vision dessen war, was heute ist. Mit dem Unterschied, dass das damals eine völlig bewusste Tat war. Und heute ist das ein Tool, mit dem man so umgeht, wie mit Gabel und Messer und insofern gar nicht reflektiert, sondern es einfach benutzt. Aber es war eine bewusste Handlung von dessen, was heute so eine Selbstverständlichkeit ist… Also ich sehe da schon einen Bezug.

Interviewer: Super.

Michael Bielický: Ich hoffe, dass das für etwas gut war.

Interviewer: Ja, also deine Begeisterung reißt einen auch sofort mit. Die Leute, Benjamin und so, die sind nicht so vom Stuhl gerissen, wie du, von den eigenen (unv.). Aber das zeigt auch, was das bei anderen ausgelöst hat. Die saßen da in Kassel und haben, wie bei so einem Startup quasi irgendwie Sklavenarbeit geleistet.

Michael Bielický: Und wir hatten da den Genuss gehabt und Freude und Fun. Das war auch Party. Das war eigentlich jeden Tag Party. Im Grunde war das eine Party, nur, dass sie zum ersten Mal digital vernetzt und live stattgefunden hat.