Interview mit Manuel Tessloff, 28.03.2019

Manuel Tessloff komponierte zusammen mit Julian Boyd die Musik für Piazza virtuale und programmierte Teile der Software von “Piazza virtuale”. Heute leitet er die Hamburger Kommunikationsagentur Responsive Acoustics GmbH.

Interviewer: Noch mal vielen Dank für die Bereitschaft, uns ein Interview zu geben. Ich habe gerade noch mal ein bisschen gegoogelt, wie man das heute so macht und gesehen, dass sie Informatik studiert haben eigentlich. Vielleicht fangen wir damit mal an. Das ist ja jetzt nicht so der ganz normale Lebensweg des Informatikers, dass man nach dem Studium so einer Künstler-, Mediengruppe beitritt. Wie ist da der Kontakt zustande gekommen und was hat sie auch interessiert an Ponton TV?

Manuel Tessloff: Das kam über meine damalige Freundin Kate zustande, die auch bei Ponton arbeitete oder mit den Künstlern von Ponton auch schon lange, lange verbandelt war, die ich tatsächlich kennengelernt hatte über die Hamburger Mailboxszene Ende der Achtzigerjahre. Wo wir eben so unterwegs waren, wo ein paar hundert Leute in Hamburg sich regelmäßig nachts in Mailboxen trafen, unterhielten und diese wunderbaren neuen Kommunikationsmittel nutzen, um (lacht) Spaß miteinander zu haben, Spaß am Gerät zu haben. Und Kate hatte ich häufig online getroffen. Und dann habe ich sie tatsächlich auch irgendwann im Fernsehen gesehen als ich nachts, ohne es zu ahnen, so den offenen Kanal in Hamburg einschaltete und eine Sendung sah namens Hotel Pompino, wo unglaublich viel aufm Stream passierte, was mich total faszinierte, weil es einfach das Fernsehen war, wie ich es überhaupt gar nicht kannte. Das war sensationell chaotisch, es war wunderbar kreativ, künstlerisch anspruchsvoll. Und Fernsehen wurde hier auf eine ganz andere Art und Weise gespielt und ich war plötzlich Teil der Sendung, weil ich eben mich auch dann mit meinem Modem da einwählen und daran teilnehmen konnte. Und das war ganz wunderbar (lacht). Naja, und Kate und ich kamen irgendwann zusammen und Kate stellte mich dann eines Tages mal über ein „Ponton European Media Lab“ Salvator und Karel und Mike und Benjamin vor. Wir kamen ins Gespräch und schnackten und das war zu einem Zeitpunkt, wo ich noch im Grundstudium der Informatik hier in Hamburg war, parallel hier Musik gemacht habe und dann fragten die Jungs mich: „Sag mal, du machst Musik, du kannst Computer. Wir haben hier gerade eine Vakanz. Hast du nicht Lust mit uns am Projekt zu arbeiten?“ Und ich sagte: „Selbstverständlich.“ und war da natürlich sofort mit an Bord.

Interviewer: Da muss ich jetzt noch mal dann eine Sachfrage nachstellen. Und zwar war Hotel Pompino ja während der Ars Electronica eigentlich ein ORF-Projekt, das auch in Deutschland gezeigt worden ist. Das wusste ich noch nicht, das ist also auch im Hamburger Offenen Kanal live übertragen worden? Also, man konnte von Hamburg auch sich beteiligen?

Manuel Tessloff: Bin mir jetzt nicht hundertprozentig sicher, ob es wirklich Hotel Pompino hieß, es war auf jeden Fall hier, ich glaube, aus dem Museum für Kunst und Gewerbe. Das war auch nicht wie beim Offenen Kanal, wenn ich mich recht entsinne.

Interviewer: Okay. Dann muss das aber nach… Also war das nicht das Hotel Pompino bei der Ars, sondern dann war das ein Nachfolgeprojekt. War das vielleicht dieses University TV?

Manuel Tessloff: Das ist natürlich möglich, University TV, könnte sein. Ja.

Interviewer: Da muss ich leider auch noch nachbohren, Kate, wie ist da der volle Name?

Manuel Tessloff: Katharina Baumann.

Interviewer: Ah ja, die ist mir auch schon untergekommen. Und die ist mir zwar unter anderem untergekommen, also ich habe auch mal, soweit das noch möglich ist, in den alten Usenets geforscht und da tauchte halt genau dieser Name auf, um van Gogh TV oder Piazza virtuale anzukündigen und auch zur Teilnahme zu animieren. Also, da sieht man auch so diesen Übergang so ein bisschen so von Mailbox, wovon natürlich auch keine Relikte oder fast keine Relikte gibt so im Internet.

Manuel Tessloff: Man findet die alten Nachrichten ja tatsächlich noch. Das war ja ganz ulkig. Man musste ja damals, war das ja nicht permanent online, sondern man musste man nachts praktisch pollen, das heißt, den Rechner dazu ermutigen, sich irgendwo einzuwählen bei einer anderen Kiste und da die Aktualisierung der Newsgroups rauszuziehen. Und das hatte Kate über Jahre dann auch gemacht. Und letztendlich nachher betreut, so redaktionell. Okay. Connection lost habe ich jetzt gerade gesehen. Ist die Connection wieder da? Okay. Super.

Interviewer: Gut. Zurück zu der Situation da in Hamburg und zu Ponton zunächst mal. Sie haben gerade auch gesagt, genau, dass Sie auch Musik gemacht haben. Wann war das denn überhaupt genau, als sie da eingestiegen sind?

Manuel Tessloff: Also, jetzt eingestiegen bei Ponton, das muss so 1991 gewesen sein. Genau, das war so im Laufe des Jahres 1991, wo dann auch schon relativ schnell klar wurde, dass hier an einem wirklich mächtigen Projekt gearbeitet wurde, wo es nicht nur darum geht, mal ein bisschen Musik vorzubereiten, sondern wo es darum geht, wirklich ein sehr, sehr intensives Engagement mitzubringen. Also auf gut Deutsch das Informatikstudium habe ich dann erst mal (lacht) ruhen lassen und mich dann mit den wirklich wichtigen Dingen des Lebens beschäftigt, zumal ich auch Informatik… Ich meine, das ist ein interessantes Fach zu studieren, das hat mich dann aber auch nicht so sehr gereizt wie die praktische Anwendung der Softwareentwicklung. Also Informatik studieren heißt ja nicht, dass man Software entwickelt. Und ich habe das auch ein bisschen nicht ganz so eingeschätzt. Aber wie gesagt, Informatikstudium war dann ziemlich schnell erstmal zu Ende gebracht worden beziehungsweise nicht zu Ende gebracht worden, weil ich mich dann lieber mit der Kunstwelt auseinandersetzte.

Interviewer: Darf ich fragen, ob es jemals zu Ende gebracht wurde?

Manuel Tessloff: (lacht) Informatik? Nein, wurde nicht zu Ende gebracht. Keine Zeit.

Interviewer: Scheint aber auch jetzt nicht so ein (lacht) Problem gewesen zu sein. Sie haben gesagt, Sie haben auch Musik gemacht. Um was für Musik handelte es sich dabei?

Manuel Tessloff: Nun ich habe eigentlich eine klassische Ausbildung. Ich bin also eigentlich Geiger von Haus aus und habe dann aber auch schon Mitte der Achtzigerjahre über einen reizenden Freund Zugang gefunden zur elektronischen Musik. Das heißt, so mein erstes Casio Keyboard in der Wohnung gehabt, meinen ersten Sequencer damals noch auf dem C64 von der Firma Steinberg Cubase, was wir auch bei der Piazza virtuale eingesetzt haben. Aber das war am Anfang einfach so der Versuch als klassisch ausgebildeter Musiker jetzt elektronische Musik zu machen und da kommen üblicherweise Dinge raus, die jetzt nicht gerade Popsongs sind. Also, es waren dann eher so experimentelle Angelegenheiten, auch der Versuch schon, sich so ein bisschen in so eine Dance-Richtung zu orientieren, aber was dann auch zu langweilig gewesen wäre. Einfach so experimentieren mit Klang eigentlich und mit Synthesizer-Sounds. Ich habe auch Software da für die Geräte geschrieben und damit so mein erstes Business betrieben, also kleine Edit-Software für Synthesizer, die dann auf dem (lacht) Postwege per Diskette an Leser der Zeitschrift verteilt wurde. Das heißt, es gab immer so eine Mischung aus einerseits den Klang erzeugen, den Sounds machen, Musik erzeugen und der Software, die dazugehört, um überhaupt dazu zu kommen, solche Musik zu machen.

Interviewer: Wie hieß dieses Programm, das Sie da entwickelt haben?

Manuel Tessloff: Das ist eine gute Frage. Das hieß, glaube ich, irgendwie so was stumpfes wie K4-Editor oder so was, also unglaublich kreativ (lacht). Ja. Also, es gab damals einfach für genau diesen Synthesizer, den ich da gerade eingesetzt hatte, keine Software, wo man auf dem Atari dann die Sounds verändern kann. Das ist sehr viel einfacher als wenn man an diesem kleinen Reglerchen rumdrehen muss. Und dann habe ich diese Software geschrieben und dann gab es dann auch einen kleinen Markt dafür, also kein riesiger Markt, aber es gab einen Markt.

Interviewer: Dann auch so eine Übergangszeit in der Hinsicht, wo wahrscheinlich auch noch diese Experimente möglich gewesen sind? Sie haben gesagt, experimentelle Musik, keine Tanzmusik, also mit Techno hatte das so nix zu tun?

Manuel Tessloff: Ja, es ging teilweise auch so ein bisschen in den Techno-Bereich, aber ich habe das ja tatsächlich auch nie kommerziell ausgewertet, sondern eigentlich immer zur eigenen Freude gemacht. Ich war also kein professioneller Musiker, der jetzt irgendwie schon einen Gig hatte und ständig auf Konzerten unterwegs gewesen wäre, sondern meine weitestgehende professionelle Erfahrung war, glaube ich, mittelalterliche Musik in Kirchen gespielt zu haben und das ist das, was wir dann elektronisch umgesetzt haben.

Interviewer: Für Ponton oder für Piazza virtuale, war das natürlich eine ideale Kombination, jemand der einerseits einen musischen und musikalischen Background hat und andererseits aber auch mit den Maschinen umgehen konnte. Unter welchen Voraussetzungen sind Sie denn da eingestellt worden? Oder gab es da so eine konkrete Soft-Description, wie man heute sagen würde oder muss man sich da auch so reinfinden?

Manuel Tessloff: Da muss man sich schon reinfinden. Ich meine, es ist ja eine Art Kollektiv gewesen, was wir da gebildet haben. Und dann findet man eben so seine Rolle und überlegt, was man da leisten kann. Der Punkt war ja nicht, dass ich dazu gebeten wurde ausschließlich, um jetzt mal ein schönes Titelthema oder Musik zu schreiben, sondern eigentlich ging es ja darum, das ganze Thema Klang komplett zu betrachten. Das fing sicherlich damit an, dass eine Software geschrieben werden musste, da kommen wir vielleicht später dazu, die es überhaupt ermöglicht, dass in so einem Studio, was komplett alleine läuft, alle Elemente, alle Synthis, alle Sampler und alle klangerzeugenden Instrumente mit eingebunden wurden in den Studiokontext. Dann aber auch natürlich die Frage: Wie kriegen wir es denn hin, so eine Live-Sendung möglichst automatisiert auch abzufahren im Hinblick aufs Mixing und solche Dinge. Also es war eine Mischung aus Softwareentwicklung, die uns… Und dann eben auch die Komposition und die Klangerzeug, das Sample finden und einbringen in die verschiedenen Programmblöcke, damit eben was zu hören ist.

Interviewer: Und klar war das schon, was da passieren würde? Also der Vertrag mit ZDF existierte… Den gab es noch nicht. Und der ist ja, glaube ich, auch erst Anfang 1992, soweit bisher rekonstruiert wurde, wirklich unterschrieben worden. Aber gab es da schon so bestimmte Ideen: Wir wollen zum Beispiel so ein Musiksampling im Fernsehen machen? Oder wie konkret war das zu dem Zeitpunkt schon?

Manuel Tessloff: Zu dem Zeitpunkt war für mich noch nicht so sehr konkret. Das war erstmal so: Okay, ich finde jetzt hier eine Umgebung, in der ich mich kreativ und künstlerisch austoben kann, so ganz am Anfang. Und wo ich auch mit mehr Technologie arbeiten kann. Ich meine, das war ja damals alles fürchterlich teures Zeug, was man so brauchte, um Klang zu erzeugen (lacht) auf elektronische Art und Weise. Macht heute einen Rechner auf, der ein paar Softsynthesizer für wenig Geld launchen kann. Damals musste man natürlich Hardware hinstellen und das miteinander verkabeln und Hardware-Mischpulte und diesen ganzen anderen Schnörkelkram. Da bin ich natürlich auf eine kleine Infrastruktur schon gestoßen mit der ich arbeiten konnte, die schon da war und dann konnte ich das eben entsprechend ausbauen. Später dann, als klar wurde: Okay, wir haben hier wirklich das konkrete Projekt für die Documenta, es wird ein Fernsehthema sein, wir können uns um das Thema Sponsoring auch kümmern. Dann ging es eben auch darum, dann mit den verschiedenen Musikfirmen zu sprechen, Roland beispielsweise gehörte dazu und ganz wichtig für uns, die Firma Steinberg auch aus Hamburg, die uns die entsprechende Software zur Verfügung gestellt hat. Und vor allem, das war besonders wichtig bei der Software, uns auch in ganz vielen Beta-Versionen und auch an speziell für uns gebauten Versionen der Software teilhaben ließ. Also, wie gesagt, es ging ja auch darum, dass wir einen automatisierten Sender machen mussten, das heißt die Software zum Steuern der Musik, sollte eben auch live spielen und dafür musste es dann eben entsprechende Software geben, die dieses Live-Spielen antriggern kann. Und da wurden wir sehr gut unterstützt. Also, wie gesagt, es war eine ganze Bandbreite an, sowohl musik- als auch softwaretechnischen Herausforderungen, die mich natürlich sehr angesprochen hat und die wir dann gemeinsam auch so weiterentwickelt haben. Es hat sich einfach so im Laufe der Zeit etabliert.

Interviewer: Wir haben ja auch den Briefverkehr, der damals stattgefunden hat, in zwölf Ordnern glaube ich, bekommen. Und da sehe ich halt auch eine ganze Reihe von Briefen von Ihnen, genau an solche Firmen, wie – Wie heißen die? – Steinberg, Steinbeck, Stein-irgendwas und so, wo um Unterstützung gebeten wurde und die offenbar auch sehr großzügig gewährt worden ist. Ich weiß nicht, ob Sie in den letzten Jahren auch noch mit solchen Themen zu tun hatten. Ich habe das Gefühl, dass damals irgendwie das Geld und die Unterstützung so ein bisschen lockerer saß als heute?

Manuel Tessloff: Ich habe mich jetzt lange nicht mehr darum gekümmert, von Softwarefirmen gesponsert zu werden. Ich weiß nicht, wie das heutzutage ist, ich glaube, das kann man auch immer noch ganz gut hinkriegen, wenn man gute, kreative Arbeit leistet. Und letzten Endes, wenn sie Videoblogs machen und so, dann werden sie halt auch zugeworfen mit Soft- und Hardware aus dem Musikbereich. Das war aber hier eine andere Geschichte. Es ging ja nicht darum zu sagen: Leute, gibt uns mal für null Geld einen Sequenzer. Sondern: Gebt uns mal einen Sequencer und setzt euch da mal mit einem Programmierer ran und schreibt noch mal ein bisschen Code da rein, der für uns notwendig ist, weil sonst können wir den Sequencer gar nicht so einsetzen, wie wir ihn einsetzen möchten. Und das war das Tolle, also wir wurden da wirklich super unterstützt. Also, der Manfred Rürup, damals Chef von Steinberg, hat dann aber dafür gesorgt, dass seine Kollegen und seine Software-Entwickler, sich hier ganz stark mit eingebracht haben. Und das ging letzten Endes… Es ging um die Fernsteuerung dieser Sequencer-Software über eine eigene Software, die wiederum dann basierte auf unserem eigenen Message-Bus, den wir nutzten, um eben alle Geräte miteinander zu harmonisieren, die da im Gesamtkontext vom Piazza virtuale eingesetzt wurden. Also, Beispiel: Ich will das visuelle eines Sendeblocktrainers abspielen und ich will jetzt zeitgleich dazu, einen Sequencer dazu bringen, das Akustische dazu abzuspielen, der sich in einem total anderen Raum befindet, der nicht von einem Menschen bedient wird, sondern wirklich nur über das Protokoll lauscht: Aha, okay. Da muss ich mich jetzt drauf vorbereiten. Es wird in 60 Sekunden der nächste Programmblock starten. Der Countdown läuft also praktisch über den Message-Bus, der da von Christian Wolff gebaut wurde, maßgeblich. Der Countdown läuft runter und zu einem bestimmten Zeitpunkt müssen die beiden Dinger parallel synchron eingespielt werden. Und das haben wir eben darüber lösen können, dass wir eben, wie gesagt, diese Unterstützung auch von Steinberg.

Interviewer: Da sind wir jetzt schon gleich bei dem konkreten Funktionieren von dem, was Sie da entwickelt haben. Da würde ich jetzt gerne noch mal naiv nachfragen, warum musste das denn alles automatisiert sein? Also, ich denke jetzt, zu der Zeit beim Fernsehen, da saßen dann halt Leute und der eine hat auf den Knopf gedrückt, der eine auf den Knopf gedrückt, wenn da was zusammen ablaufen sollte. Warum dieser, also das klingt auch für mich als Außenstehender, wie eine relativ komplexe Aufgabe, dass man da halt solche Sachen scheinbar mehr oder weniger automatisch das finden lassen muss oder wollte.

Manuel Tessloff: Also wir befanden uns ja damals in einem Fernsehzeitalter, wo der Begriff „MAZ ab!“ eigentlich permanent genutzt wurde, nämlich wenn irgendeine Magnetaufzeichnung eingespielt werden sollte. Und das war für uns total klar, dass wir nicht so einen normalen Apparat hier hinstellen, sondern einen, der bedient werden soll, von den Leuten, die sich das Programm anschauen. Dass die Menschen, die das Programm schauen, selber die Inhalte praktisch auch selbst generieren können, wir ihnen ja nur Werkzeuge zur Verfügung stellen. Und da war für uns natürlich auch der Anspruch da, dass wir ihnen Werkzeuge zur Verfügung stellen, wo eben kein Mensch eingreifen muss, um das Werkzeug noch irgendwie zu steuern. Also, im Idealfall schaltet man den Sender an und dann läuft der einfach mal für hundert Tage durch und schaltet man dann in diesem Fall wieder ab, nach der Documenta oder lässt ihn einfach weiterlaufen. Aber wichtig da eben zu sagen: Okay. Das Ding wird gestartet, läuft und keiner muss sich mehr drum kümmern. Das heißt, es war eine Idealvorstellung, wir haben in die Richtung noch ein bisschen menschlichen Eingriff nachher gebraucht, aber die wesentlichen Bestandteile des Programms waren, wie gesagt, vorher programmiert und liefen dann ab. Also letzten Endes… Ist ja wie so ein Vorgriff auf das, was im Web passiert. Das wäre ja jetzt auch absurd, wenn man jetzt auf YouTube ein Video einstellen will und dann jemand irgendwie von YouTube in New York erst mal auf die Aufnahmetaste drücken muss, damit dann irgendwie jemand hier seinen Influencer-Krams loswerden kann. Ne? Also, das war genau die Idee: Leute, legt mal los. Wir geben euch hier was in die Hand, damit könntet ihr jetzt euer Programm machen. Viel Spaß.

Interviewer: Aber diese Automatisierung betraf jetzt nicht nur Programme, wie zum Beispiel halt diese Band oder diese Orchestersamples, die man da gemeinsam bedienen konnte, es betraf alles? Also, auch das Abfahren der Logos und der Vorspänne und Nachspänne und so weiter und so fort, ja?

Manuel Tessloff: Ja. Genau. Deswegen ja auch dieser sogenannte Message-Bus. Also, im Prinzip, die… Oder ja, Steuerungsbus, ich weiß gar nicht, wie wir es genau genannt hatten. Also ein Datenprotokoll auf das alle Geräte, die im Programmkontext involviert waren, gelauscht haben und darüber praktisch ihre Befehle bekamen, wann was passiert. Also, wir konnten über diesen Bus dann im Prinzip doch irgendwie sagen: Okay. Programmblock A, B oder C wird jetzt in wenigen Sekunden oder in einer Minute gestartet und dann konnten sich alle Komponenten darauf vorbereiten. Also, dass dauerte ja auch alles ein bisschen. Ich meine, wenn man so einem Sampler gesagt hat: Jetzt lade mal bitte Samples nach für den nächsten Programmblock und der musste dann seine zwei Megabytes Samples machen, was riesig war. Das hat eben auch mal irgendwie 30 Sekunden gedauert, nicht? Und bis so ein Cubase dann sein komplettes Songprojekt geladen hat, hat auch ein bisschen gedauert. Also alle Komponenten fingen praktisch auf gemeinsamen Befehl hin an, sich darauf vorzubereiten, jetzt einen neuen Programmblock zu starten, dann gab es das Go und dann ging der Programmblock los und dann konnten die Leute damit arbeiten.

Interviewer: Steht ja unten auch immer: „Unsere Programme laden jetzt“. Das ist dann genau dieser Punkt, den sie gerade beschrieben haben, ja?

Manuel Tessloff: Ja. Auch mit den ganzen Risiken, die damit einhergehen, dass natürlich auch eine Software abstürzen kann, wenn das Programm gerade lädt oder solche Dinge. Das gab es nämlich auch mal, dass man dann plötzlich dann so jetzt… Ein Programm ist mit dem „Fehler -1“ abgestürzt und dann steht da so was auf dem Fernsehschirm. Hat ja auch einen gewissen Charme.

Interviewer: Solange es keine Flugzeuge sind, die von der Software (lacht) nach unten dirigiert werden, kann man sich das schon mal leisten, ja.
Wir gehen jetzt noch mal vielleicht kurz zurück nach Hamburg, also als das entwickelt wurde, wie würden Sie denn da so die Arbeitsatmosphäre in diesem Ponton-Lab beschreiben?

Manuel Tessloff: Extrem emotional und extrem hungrig, was wirklich Einzigartiges zu machen. Also, das Emotionale war sicherlich etwas, was mir besonders gut damals auch gefallen hat und was für mich sehr wichtig war. Auch so beim kreativen Schaffensprozess, also wenn es darum ging jetzt, wir haben uns darüber Gedanken gemacht, wie könnte ein neuer Programmblock aussehen, eine Robot-Kamera oder ein gemeinsames Atelier, Malstudio, interaktives Orchester. Und dann fängt man ja so an zu überlegen: Okay, wie könnte das klingen? Und dann war das ein sehr kollaborativer Prozess. Also, ich habe dann manchmal auch so ein, zwei Tage im Keller gesessen und dann ist irgendwas entstanden, was für meine Ohren schon mal ganz gut war, dann kommt Salvatore rein, hat mit seiner italienischen, emotionalen Art dann noch: „Ah, pass auf, dass muss viel mehr atmen und leben und du musst den Geschmack des Salzes auf der Haut spüren.“ und so. Also, dieses Kollaborative, auch über den eigenen Horizont Schauende, das war glaube ich ein ganz wesentlicher Bestandteil der Arbeitsatmosphäre. Und natürlich auch, es war einfach auch… Das war uns auch bewusst, dass wir mit Dingen arbeiten, dass wir mit Technologie arbeiten, die eben NICHT auf jedem Schreibtisch steht, sondern was ganz Besonderes und total Neues ist, mit dem wir jetzt auch irgendwas machen können, was, ja wie gesagt, einfach noch nicht gemacht wurde. Also, mit viel, eigentlich semi-professionellem Equipment hier einen Gegenentwurf zu machen zu einer extrem professionellen Welt. Weil es gibt ja kaum eine professionellere Medienwelt als die des Fernsehens und da haben wir halt unseren kreativen Gegenentwurf dazu gebaut, mit eben, wie gesagt, Technik, die mehr oder weniger zusammengesponsert war.

Interviewer: Wenn ich das so höre und wenn ich mir zum Beispiel auch einfach die Fotos angucke, sowohl da von dem Ponton-Lab in Hamburg wie auch dann von den Containern in Kassel, das ist ja alles sehr rudimentär, da stehen eigentlich nur so ein paar Tische mit der Technik rum. Das ist nicht irgendwie geschmückt, da hat keiner ein Bild an die Wand gehängt. Das erinnert mich auch so ein bisschen an die Startups der Gegenwart. Würden Sie diese Parallele auch sehen, dass man da so junge hungrige Leute hinsetzt und mal machen lässt und ihnen Technik zur Verfügung stellt und dann eben auch unter Arbeitsbedingungen, die jetzt nicht jeder akzeptieren würde, die vielleicht auch ein bisschen ausbeuterischer sind als jetzt im durchschnittlichen Unternehmen?

Manuel Tessloff: Ich meine, wenn man von Ausbeutung spricht, glaube ich, dann kann man höchstens von Selbstausbeutung sprechen, weil wir natürlich alle auf einer Mission waren. Also, das war ja ein Ding, wo wir wirklich ranwollten, keiner… Ich glaube, der große Unterschied zu einer Startup-Szene ist, dass keiner von uns an diesem Projekt gearbeitet hat, um damit reich zu werden. Es hat auch keiner im Kopf gehabt, dass er jetzt irgendwie sofort irre berühmt oder was wird. Es geht im Prinzip wirklich nur um das Thema. Und wenn Sie gerade sagen, es wäre ein relativ kühle Atmosphäre gewesen, habe ich nicht so empfunden. Ich fand es eine extrem warme Atmosphäre, aber das mag auch sein, dass wahrscheinlich einfach in einem Raum voller Kabel, Screens, teilweise wie gesagt auch schon ein bisschen veralteter Technik oder semi-professionelle Technik, die man irgendwie zum Laufen gebracht hat und mit Gaffer Tape irgendwo befestigt (lacht) hat, das ist… Ich finde das extrem gemütlich ehrlich gesagt. Und Bilder haben wir auch an der Wand gehabt.

Interviewer: Okay. Das bezog sich jetzt mehr auf die Container in Kassel, wo aber natürlich auch klar war, dass das eine temporäre Angelegenheit ist. Aber, um noch mal auf die Arbeitsatmosphäre zurückzukommen, wie sah das so aus mit Hierarchien? War das wirklich mehr so ein gleichberechtigtes gemeinsames Arbeiten oder gab es da schon auch Leute, die mal Chef gespielt haben oder Chef spielten?

Manuel Tessloff: Also, ich kann da ja sicherlich nicht für alle sprechen. Für mich war schon sehr klar, dass Karel, Mike, Salvatore und Benjamin diejenigen sind, die da den Hut aufhaben, die letzten Endes ja auch geschäftlich sozusagen das ganze Ding gemanagt haben, weitestgehend. Und das war für mich schon klar, dass auch da die Richtung natürlich entsprechend vorgegeben wird. Andererseits, der kreative Prozess, da wurde auch extrem viel zugelassen. Das hätte auch sonst nicht funktioniert, denke ich. Also, das betrifft sicherlich andere Künstler, die an dem Projekt mal über eine gewisse Zeit mitgearbeitet haben. Es kamen ja auch immer wieder mal Leute dazu, die blieben dann ein paar Wochen und dann gingen sie wieder weg oder blieben auch mal ein bisschen länger. Es war natürlich…
Ich meine, klar, es ging auch heiß her und wir haben uns auch gestritten und es ist halt ein… Wir haben ja auch unter starkem ökonomischem Druck alle arbeiten müssen, was einfach, wie gesagt, total normal ist in dieser Situation. Ich glaube, es wäre…
Ich weiß, es war ein extrem kollaborativer Prozess, wo wir alle eine Stimme gehabt haben und die Stimme auch gehört wurde. Ja.

Interviewer: Stichwort ökonomische Situation. Sie wurden schon bezahlt, aber nicht so, wie Sie bei IBM oder bei einer traditionellen Computerfirma bezahlt worden wären?

Manuel Tessloff: Ja, es gab schon so ein bisschen Geld auf jeden Fall, sodass wir davon Leben oder überleben konnten. Es würde jetzt nicht reichen, eine fünfköpfige Familie durchzubringen, aber es hat zumindest in meiner eher studentischen Situation… Dann war das auf jeden Fall genügend, um zu überleben. Was wir ja auch dann… In Kassel hatten wir zum Beispiel diese Villa, in der wir gemeinsam dann gelebt haben, wo natürlich keiner Miete zahlen musste, sondern das war dann einfach eine Infrastruktur, die bereitgestellt wurde und vielmehr braucht man auch nicht, wenn man ohnehin um die 20 Stunden am Tag arbeitet.

Interviewer: (lacht) Und die Arbeit, die man da hatte, die war auch, wie soll ich sagen, Kompensation dafür, dass man nicht so viel verdient hat?

Manuel Tessloff: Ja, klar. Also, ums Geldverdienen ging es keinem da. Also, es ging wirklich nur darum, dass wir hier wirklich eine unglaubliche Chance haben, etwas zu tun, wo wir nicht eben nur uns mit Technik beschäftigten und mit Inhalten beschäftigen und mit einer Vision beschäftigen, sondern das eben in diesem Kontext mit ganz, ganz vielen Leuten tun können, die eben auch, wie gesagt, so die Ideen reingebracht haben und so viel Emotionalität reingebracht haben, dass… Keiner war wegen des Geldes da. Da bin ich mir ziemlich sicher.

Interviewer: Gut. Gucken wir uns noch mal die einzelnen Arbeitsfelder etwas konkreter an. Also, für mich als Zuschauer ist natürlich so das Erste, was so das Gesamtbild prägt, erst mal diese Titelmusik, die mich immer so ein bisschen an den Nussknacker erinnert. Inwiefern waren Sie daran beteiligt oder waren Sie da überhaupt dran beteiligt?

Manuel Tessloff: Ja, also wir hatten erstmal… Ich habe da zusammen mit Julian Boyd dran gearbeitet. Julian Boyd war auch ein Musiker, der zu uns gestoßen ist, auch schon in der Zeit vor Kassel. Und der dann auch in Kassel noch, ich glaube, bis zur Hälfte der Piazza virtuale dabei war, dann aus persönlichen Gründen weitergezogen ist. Julian und ich hatten dieses Thema entwickelt, erstmal den Anfang gegeben. Sie kennen ja dieses Dada dam dada dam, ne? (spielt kurz Melodie an) und so weiter. Das ist ein spätmittelalterliches Thema, was ich kannte aus einer Fernsehserie tatsächlich aus den Achtzigerjahren. Das hieß, ich glaube, die „Leute vom Domplatz“ oder so ähnlich. Hat mich total beeindruckt als Kind, also als Serie und hatte diese wunderschöne, kleine Titelmusik. Die kann man auch mittlerweile auch endlich auf Apple Music finden im Original. Ist im Prinzip nur so ein kleines Tanzthema. Ich kann Ihnen jetzt gar nicht ganz genau sagen, was für eine Art von Tanz das war, aber es war auf jeden Fall so ein Tanz fürs Volk. Und für die einfachen Bauern, die zur frühen Polyphonie des Spätmittelalters dann ihr Tänzchen aufgeführt haben. Und ich fand, das passte so ein bisschen, weil wir sprachen ja über den Marktplatz und irgendwie fand ich es auch interessant irgendwie so den Bogen zu kriegen von dem alten Marktplatz zum total anderen neuen Marktplatz, der Piazza virtuale. Und dann brauchen wir einfach irgendwas, was so ein bisschen… Wir brauchen so einen Tusch praktisch bei dem das Ganze auch nach vorne gebracht wird. Wir reden ja schließlich nicht zuletzt über Fernsehen und wir reden darüber, dass wir was ankündigen wollen. Da können Sie: (singt) Da da da da, dadadada. Was ja im Prinzip so ein klassischer Tusch ist. (Singt) Da da da da. Und schon ist die Piazza (lacht) virtuale da. Wird halt eben abgelöst durch dieses Tänzerische und ja, so fügte sich das dann irgendwie zusammen. Und es war sehr gut, dass Julian dabei war, der ausgebildeter Filmmusiker ist. Und dadurch dann auch noch einen Schuss mehr musikalische Professionalität reinkam, was mir gut gefallen hat. Und wir haben so an einigen Themen zusammen gearbeitet, er hat auch einzelne, mal komplett alleine gemacht, wie das für den Sendeblock „Sarah und Daniel“ war es dann vermutlich. Wo er eben seine, wie gesagt, Kompositionsfähigkeit und seine Streicher-Arrangements wunderbar rauskehren konnte.

Interviewer: Was jetzt so die Anfangsmusik oder das Thema betrifft, hat das natürlich auch schon was so von der Art wie bei den Nachrichtensendern, wie CNN oder so operiert wurde. Das war ja damals auch relativ neu, die internationalen Satellitensender haben anderes technisches Niveau vorgelegt als die „Tagesschau“ vielleicht. Hat das da auch eine Rolle gespielt, dass man sich gedacht hat, wir versuchen auch ein bisschen diesen Sound und diese Selbstdarstellungsart zu emulieren?

Manuel Tessloff: Nein, also die CNN-Ästhetik war mir damals auch noch gar nicht bekannt, ehrlich gesagt. Ich habe wenig ferngesehen und schon gar nicht CNN, 1991. Das war dadurch tatsächlich nicht wirklich nur um, ja, wie gesagt, diesen klassischen orchestralen Tusch eigentlich herzustellen und dann zu verbinden mit der tänzerischen Form.

Interviewer: Verstehe. Denn das habe ich jetzt schon ein paar Mal gehört, dass auch gesagt worden ist von Leuten, die mitgearbeitet haben, dass halt durch den ersten Golfkrieg, dass man da halt so angefangen hat, so internationale Sender zu gucken. Da haben sich halt CNN… Und die hatten schon… Also, dann ist das eine zufällige Parallele, dass die halt genauso einen Tusch gehabt haben.

Manuel Tessloff: Ja, das war zufällig.

Interviewer: Das mit dem Nussknacker vorhin sollte allerdings überhaupt keine Kritik sein, also ich finde, dass dieses Thema ein unheimlicher Ohrwurm ist und sich auch, Sie haben es wahrscheinlich, schon öfter gehört, sich auch nicht abnutzt irgendwie. Es ist nicht so, dass man irgendwann mal sagt, ich kann es nicht mehr hören. Der Überraschungseffekt ist auch immer wieder, dass man da erstmal so mit vollem Programm wachgerüttelt wird und dann halt diese Tanzparty, wie Sie das gerade beschrieben haben, folgt.

Manuel Tessloff: Dann haben wir es ja geschafft, einen schönen kleinen Evergreen zu komponieren. Das freut mich (lacht).

Interviewer: Das kam aber alles von der Festplatte sozusagen? Das war ja damals auch noch eine relativ neue Sache, dass man halt so komplett digital das Komponieren konnte. Sehe ich das richtig?

Manuel Tessloff: Also, es kam eigentlich nicht von der Festplatte. Oder ja doch, es kam doch von der Festplatte, aber es kam eben nicht als fertiges Audiofile von der Festplatte. Und das ist glaube ich das, was sich stark unterscheidet, von einer Variante, die man heute so bauen würde. Damals war es ebenso, dass wir im Prinzip die Steuersignale für die verschiedenen Midi-Sounds oder die Samplersounds eben, die auch über einen Midi angesteuerten Sampler abgespielt wurden, dass wir diese Steuersignale eben aus dem Sequenzer rausbekamen. Da gab es keine einzige Audiospur drin. Und das heißt, es wurden die Steuersignale geladen, es wurden die Samples geladen. Es wurden die verschiedenen Sounds für die Synthesizer geladen und dann wurden die eben live vom Sequenzer synchron zu der Animation gespielt. Also, es gab kein Audiofile, wo jetzt ein komplettes Audiofile von dem kleinen Werk, sondern es gab wirklich nur die verschiedenen Segmente, aus denen sich das zusammensetzt und das wurde dann abgespielt. Also, ob man es live spielen würde, nur dass man es eben nicht selbst live abspielt, sondern dass es eben der Sequenzer abspielt.

Interviewer: Was aber heißt, man hätte da theoretisch immer wieder modifizieren können? Also so wie das so Techno Live Acts dann irgendwie, die eine Spur lauter und die andere Spur leiser machen und dann das nächste Pattern loslegen lassen, das ist da aber nicht passiert?

Manuel Tessloff: Nein, das lief immer so durch. Wir haben ja auch teilweise so auf die Schnelle wieder neue Stücke gebaut, die da auch mit integriert wurden. Auch mal für so kleine Sonderblöcke, wir hatten mal irgendeine Live-Sendung, direkt von dem Piazza Platz in Kassel gemacht. Dann gab es natürlich ein spezielles Musikstück, was extra dafür gebaut wurde so über Nacht oder über mehrere Nächte und ja. Aber wir haben jetzt nicht uns damit beschäftigt, an den Stücken noch rumzudrehen. Wie Sie schon sagten, das ist ja perfekt, da brauchen wir ja nichts dran zu machen (lacht).

Interviewer: Jetzt muss ich auch noch mal nachfragen, warum wäre es nicht leichter gewesen, wenn man einfach diese großen Themen als Audiofile gehabt hätte? War das eine technische Notwendigkeit oder war das auch der Ehrgeiz das alles so flexibel und beeinflussbar und interaktiv wie möglich zu halten?

Manuel Tessloff: Also wie gesagt, es war schon der Anspruch, dass es als… Also, Moment. Das live von der Festplatte zu holen, wäre nicht so einfach gewesen, denn Cubase konnte damals auch gar nicht live von der Festplatte holen. Ich kann mich erinnern, dass wir als wir in Kassel waren, eine neue Beta-Version von Cubase bekamen, die hieß dann Cubase Audio. Die hat sich als noch nicht so wahnsinnig stabil herausgestellt, aber war eine unfassbare Sensation, denn man konnte mit Cubase Audio eben nicht nur Midi-Signale abspielen, also Steuersignale, sondern man konnte eben parallel dazu auch zwei Spuren Audio machen. So. Also, man konnte was aufnehmen und dann wieder abspielen. Aber das kam tatsächlich erst im Laufe des Jahres 1992 als Beta-Version raus. Als richtiges Produkt im Markt war das, glaube ich, erst ein Jahr später. Und das dann plötzlich mal so 16 Spuren Audio möglich waren, da hat man natürlich noch irgendwie von geträumt (lacht). Das ist ja dann deutlich, deutlich später erst gekommen. Einfach abspielen von der Festplatte war einfach gar nicht so einfach, wäre gar nicht so einfach möglich gewesen.

Interviewer: Gut. Jetzt haben wir uns über das Hauptthema unterhalten. An welchen weiteren Titelmusiken waren Sie denn noch beteiligt und was gibt es da alles für Titel?

Manuel Tessloff: Wenn ich das mal alles auswendig wüsste. Also, ich habe mitgearbeitet… beteiligt war ich, wie gesagt, an fast allen Stücken bis auf „Moby Dick“. Das war die Geschichte, wo wir den Kollegen von dem Schiff immer reingebracht hatten in die Sendung. Ich muss mich mal kurz erinnern. Wie hieß der Sendeblock noch gleich?

Interviewer: „Moby Dick‘s Eye“.

Manuel Tessloff: Ja, der Titel hieß zumindest „Moby Dicks Eye“ und auf jeden Fall war das ein Thema, was ein Kollege gemacht hat, der während der Piazza virtuale dazukam, Sascha Windrath. Sascha hat dann auch mit übernommen als Julian gegangen ist, weil wir auch immer zu zweit sein wollten, weil wir teilweise sehr lange Sendungen hatten, wo wir dann schon noch am Mischpult stehen mussten und aufpassen, dass es keine Feedbacks gibt. Das sind so diese kleinen Details, mit denen wir uns noch beschäftigen durften. Und der hat eben diese eine Musik gemacht. Ansonsten haben die meisten Sachen dann Julian und ich gemeinsam gemacht. Also, einer hat irgendwie eine Vorlage gegeben, dann haben wir gemeinsam das weiterentwickelt. Dann, wie gesagt, war es ja ein kollaborativer Prozess. Dann kam mal irgendwie ein Karel rein, der eine Idee hatte oder eine andere Richtung vorgeschlagen hat, die wir dann ausprobiert haben. Wenn ich mal ganz kurz in die Liste gucken darf? Ich muss das mal ganz kurz auf meinem Rechner gucken. Ich hoffe, ich verschwinde jetzt nicht hier, dann kann ich Ihnen sagen, wie viele Stücke das waren. Aber das waren natürlich eine ganz Menge. Moment. Piazza virtuale. (tippt) So 21 Songs habe ich noch auf meiner Festplatte. Da gehört zum Beispiel „Der Beichtstuhl“ dazu. Das ist so eine Sache, die mit Mike Hentz zusammen entstanden ist, auch eine ganz lustige Geschichte. „Beichtstuhl“, den Sendeblock kennen Sie ja vermutlich? Im „Beichtstuhl“ oder in diesen Titel des Beichtstuhls haben wir im Prinzip gregorianische gesampelte Gesänge genommen ausm Sampler und haben die dann zusammengebaut, zu eher ungewöhnlichen, auf keinen Fall originalgetreuen gregorianischen Gesängen. Das klang also gregorianisch, harmonisch hat es aber nichts mehr mit gregorianisch zu tu gehabt. Und haben dazu ein Vater Unser auf Italienisch im Hintergrund mit unglaublichem Echo drauf oder Hall drauf. Und das Vater Unser, was im Hintergrund gesprochen wurde, kam von einem italienischen Eisbäcker, der an dem Ort, wo wir damals unseren Container aufgestellt hatten, ein Eiscafé betrieben hat. Und uns erstens mit unglaublichen Mengen an frischer Eiscreme versorgt hat und zweitens eben italienisch sprach. Und deswegen wurde er mal eben rangeholt und wir sagten: „Pass mal auf, wir hätten (lacht) jetzt gerne mal möglichst getragen gesprochen ein Vater Unser auf Italienisch eingesprochen.“ Und dann hat Mike Hentz dann seinen Text dazu gesprochen, den er sich vorher dazu überlegt hatte: (mit tiefer Stimme) „Der Beichtstuhl“ und das in den Samples eben von Mike dazu gebaut und haben dann diesen wunderschönen kleinen, dunklen Trailer gebaut. Das war einer von meinen Favoriten, ehrlich gesagt. Insbesondere auch mit dem Andrea aus der Eisdiele, das war ein echt sehr cooler Typ.

Interviewer: Es war so, dass Sie nicht mit Fertigstücken oder fertigen Kompositionen nach Kassel gefahren sind, sondern dass da immer auch noch weiter entwickelt worden ist, obwohl es diesen „Beichtstuhl“, glaube ich, ziemlich von Anfang an gab.

Manuel Tessloff: Ja, wir haben ja zwei Monate vorher schon in Kassel gearbeitet. Und hatten da das gesamte Studio aufgebaut und dann auch da weiter am Projekt gearbeitet und dann sind natürlich auch weitere Programmblöcke entstanden in Kassel. Und dadurch konnte dann eben auch noch weitere Musik oder Alternativen mit einbauen.

Interviewer: Also, das war jetzt mal abgesehen von dem Umzug, der bestimmt nicht unproblematisch oder nicht ganz einfach gewesen ist, war das eigentlich so ein direkter Übergang von dem Arbeiten in Hamburg zum Arbeiten in den Containern?

Manuel Tessloff: Und dann waren wir im Container. Richtig. Also, genau, Hamburg abbauen, so schnell wie möglich wieder in Kassel aufbauen und dann sofort wieder ran an die Arbeit, weil es gab keine Zeit zu verlieren. Wir haben ja eine Menge vorgehabt.

Interviewer: Sie haben ja gerade dieses Mischpult erwähnt und das sieht man auch in einigen Sendungen irgendwie. Das war ein ganz imposantes Teil, 16 Spuren, wenn nicht sogar mehr. Das hat, glaube ich, auch noch nicht in jedem Aufnahmestudio so gestanden. Wofür brauchte man das eigentlich, wenn dann alles automatisch vom Computer getriggert worden ist?

Manuel Tessloff: Für die Telefone, die mit reingemischt werden mussten in den Sendeblöcken, und verschiedene Audiosignale, die wir im Container generiert haben, über Mikrofone, die am Sendeplatz standen, das Studio eben direkt da drunter. Dann hatten wir auch Mikrofone mal aufs Gelände gestellt, um die Leute mit einzubinden, die draußen rumgelaufen sind. Das hat alles geklappt. Eine ganze Menge Audioquellen, die 24 Kanäle, die wir damals hatten, waren vielleicht ein kleines bisschen oversized, aber ich glaube, wir haben nachher so 12 oder so was davon regelmäßig benutzt. Wie gesagt, es mussten auch diese verschiedenen Audiokanäle von den vier Voice-Leitungen, die sich einwählen konnten, gemischt werden. Und da gab es dann immer die Herausforderung, das kennt man ja so bei Call-In-Sendungen heutzutage auch, dass es halt ein Feedback gibt, wenn jemand seinen Fernseher aufgerissen hat und dann gleichzeitig telefoniert in der gleichen Umgebung. Und da musste man immer ein bisschen aufpassen und gegensteuern. Das haben wir versucht technisch zu lösen. Es gab damals auch schon… Wir sind auf der Musikmesse rumgelaufen, nach Hardware gesucht, die in der Lage ist, ein Feedbackpfeifen rauszukriegen. Das funktioniert auch nur, solange man nicht noch irgendwelche Telefonstrippen mit irgendwelchen Delays noch dazwischen hat. Also, das hat damals zumindest nicht funktioniert. Wird man heute wahrscheinlich ziemlich einfach mit Software lösen können. Und dafür brauchten wir eben auch die Live-Präsenz vorm Mischpult, was dann sicherlich der vollen Automatisierung entgegensprach. Aber da hatten wir einfach keine Chance, sonst hätte es dann doch zu oft gepfiffen auf dem Sender.

Interviewer: Das wäre jetzt genau meine nächste Frage gewesen. Das heißt, solange gesendet worden ist, musste auch immer einer am Mischpult sitzen, allen Automatisierungsplänen zum Trotz und aufpassen.

Manuel Tessloff: Richtig, genau. Also, war aber vor allem das Feedback, dann hat man manchmal jemanden, der zu leise war und man hat versucht ein bisschen lauter zu machen. Einfach so einigermaßen eine Ausgewogenheit hinzukriegen, damit es vernünftig klingt. Genau. Aber das…

Interviewer: Wo wir gerade dabei sind, das ist vielleicht auch eine gute Gelegenheit, noch mal dieses Echo zu erklären. Das ist ja egal, von woher die Leute anrufen, es gibt ja immer so einen Echo-Effekt. Kann man das vielleicht technisch erklären?

Manuel Tessloff: Ja, das ist einfach zu erklären. Es gibt ja im Prinzip immer so eine kleine Verzögerung, wenn ein Fernsehsignal ausgestrahlt wird und die ist relativ kurz. Also, je nachdem wo man ausstrahlt. Wenn man auf einem Satelliten ausstrahlt, dann ist es einen Ticken länger, dann hat man auch entsprechend ein längeres Echo und wenn man es auf dem Fernsehen dann macht, ein bisschen kürzer. Das heißt, ich spreche in ein Telefon rein, das Telefon spricht dann in die Fernsehsendung rein, die Fernsehsendung wird ausgestrahlt und kommt wieder aus dem Fernseher zurück. Und da hat man einfach entsprechend eine kleine Verzögerung, die eintritt und dementsprechend wird es natürlich vom Telefon wieder aufgenommen, was aus dem Fernseher rauskommt und dann hat man diese wunderbare Feedbackschleife. Das ist immer so wow wow wow wow wow und sich dann so hochschaukelt, weil es immer ein Stückchen lauter wird, wenn dann eben jemand gepennt hat am Mischpult. Und wenn man eben am Mischpult steht und merkt, es fängt gerade an wow wow wow zu machen, dann zieht man entsprechend den Kanal natürlich so schnell wie möglich runter und regelt ihn dann so langsam und dezent wieder rein.

Interviewer: Also da war mit anderen Worten keine Methode, das Echo ganz wegzubekommen, denn da gibt es ja auch immer wieder Anrufer, die das bemängeln oder zumindest Fragen stellen oder sich zum Teil auch wirklich gestört fühlen.

Manuel Tessloff: Genau. Ja, dann könnte man… Wie gesagt, technisch haben wir es versucht, ob man da irgendwas machen kann. Damals haben wir keine Technik gefunden, die das hätte abbilden können. Wir haben da mit einer Hardware rumexperimentiert, die konnte dann… Wie gesagt, die hätte mit dem Feedback umgehen können, aber eigentlich eher mit einem Feedback auf einer Bühnensituationen. Wenn ich auf der Bühne bin, habe ich ja genau das gleiche Problem. Wenn ich mich mit dem Mikrofon direkt vor den Lautsprecher stelle, dass der Lautsprecher das wiederum abspielt, was das Mikrofon aufnimmt, dann gibt es eben ein Feedback. Und da habe ich es aber mit einem sehr kurzen Feedback zu tun, weil natürlich die Signalstrecken nicht so lang sind. Das heißt, es fängt an richtig hoch zu pfeifen. Und das Feedback beim Fernsehen ist eben dieses Echo, was sich so hochschaukelt.

Interviewer: In der Rockmusik ist damit ja auch kreativ gearbeitet worden, wie jetzt die Sounds sind, wie Jimi Hendrix und auch bei den Anrufern gibt es ja so Leute, wo man das Gefühl hat die versuchen das auszulösen und damit auch den Sendebetrieb zu stören oder da zumindest ein bisschen so eine Hackermethode da irgendwie ins Programm aufzudrängen. Wie fanden Sie das denn? Oder erinnern Sie sich da überhaupt dran, dass das auch versucht worden ist so mit destruktiver Absicht zu nutzen?

Manuel Tessloff: Ach, also ich würde gar nicht… Also, destruktiv habe ich es tatsächlich nicht empfunden. Ich habe manchmal so eine gewisse Hilflosigkeit der Anrufer gespürt. Also, dass die dann sich in diesem ewig wiederholten „Hallo. Hallo.“ widerspiegelte. Also, eine der Schwierigkeiten, jetzt mit dieser Öffentlichkeit… Vielleicht ist es auch gar keine Schwierigkeit, aber es ist auf jeden Fall nicht sofort etwas Kreatives passiert, wenn man sich durch das Fernsehen diese Öffentlichkeit verschafft hat, wenn man da angerufen hat, nicht immer. Und dieses „Hallo“ war ja schon sozusagen legendär. Ich frage mich ja, warum immer noch Leute anrufen, die „Hallo“ sagen, ob es nicht vielleicht irgendeine Alternative gibt (lacht), irgendwie anderes Wort vielleicht, was man sich ausdenken kann. Und da gab es eben auch Leute, die haben ja kreativ damit gearbeitet, hatte ich das Gefühl. Noch mal Sachen ausprobieren, die man sonst nicht ausprobieren kann. Ich glaube, wenn jetzt Thomas Gottschalk eine Sendung macht, wo man anrufen darf, da fange ich nicht an, meinen Telefonhörer mal kurz vor den Fernseher zu halten und zu gucken, wie das Echo dann so klingt. Das ist eine andere Situation. Hier haben wir ja den Leuten ein Spielzeug in die Hand gegeben. Und ein Spielzeug ist ja auch dazu da, also kreatives Spielzeug ist ja auch dazu da, dass man eben Sachen ausprobiert. Eine der coolsten Anwendungen der Piazza virtuale fand ich eigentlich die Anwendung als Anrufbeantworter. Also es gab dann teilweise ja sehr lange Sendeblöcke, die eben über die ganze Nacht liefen, über den Satelliten, die also sechs, sieben Stunden am Start waren. Und dann gab es eben Typen, die haben da angerufen und gesagt: „Ja. Wenn du das jetzt irgendwie hörst und dir auch noch mal das Video anschaust, dann kannst du dich ja bei mir melden. Lass mal auf eine Tasse Kaffee treffen.“ Der hat also offensichtlich jemanden angesprochen, der später wiederum auch bei der Sendung war und ihm ein Feedback darauf gegeben hat. Und das ging dann eine ganz Zeit lang hin und her. Und das fand ich schon echt eine sehr, sehr schöne Art von (lacht) kreativer Nutzung eines Fernsehsenders.

Interviewer: Das waren dann wahrscheinlich eher die Satellitensendungen, die gelaufen sind. Das merkt man ganz deutlich bei den Mitschnitten, welche Sendungen vor großem Publikum bei 3Sat stattfinden und welche über Satellit stattfinden. Man hat auch das Gefühl, dass da eher auch wirklich so eine eigene Community zusammenkommt. Vielleicht kann man dazu noch was sagen. Haben Sie das auch so in Erinnerung, gab es dann vielleicht auch so private Kontakte, da Zuschauer vorbeigekommen sind?

Manuel Tessloff: Also, die Zuschauer, die ich kennengelernt habe, die vorbeikamen, kamen eigentlich alle so eher aus dem 3Sat-Kontext, zumindest an die ich mich jetzt erinnern kann. Da waren auch wirklich eine ganze Menge super nette Leute dabei, die auch teilweise mehrfach kamen. Also am Wochenende war da schon immer ordentlich Betrieb. Auch von Zuschauern, die sich das mal so live anschauen wollten, wo man auch so ein Verhältnis zueinander entwickelt hat und auch kleine Freundschaften. Ich hatte jetzt keine Leute kennengelernt aus dem Satellitenkontext, aber es war natürlich eine total andere Stimmung, ist klar. Ich meine, da verging auch mal eine halbe Stunde und es ist einfach überhaupt gar nichts passiert. Vielleicht kam es mir auch nur so lange vor, weil es irgendwie mitten in der Nacht war und man ja auch dann ein bisschen müde wurde. Aber ja, diese kleine Community hat es, wie gesagt, sehr kreativ genutzt. Das Ding ist, wenn ich jetzt versuche da anzurufen und ich weiß, dass 100.000 andere Leute auch gerade da anrufen und ich komme dann durch, ist natürlich noch mal ein anderes Gefühl als wenn ich bei so einem experimentellen und auch gefühlt experimentellen Thema anrufe und auch weiß, dass da vielleicht nur, weiß ich nicht, 120 Leute zugucken. Also, ich habe keine Ahnung, wie viel Menschen das gewesen sind, die die Satellitenshow gesehen haben, aber es waren mit Sicherheit deutlich weniger als auf 3Sat.

Interviewer: Gut, wir haben jetzt gerade über das Publikum gesprochen. Was waren das so für Leute, die da kamen? Waren das eher so technisch orientierte Leute, die das interessant fanden, weil es halt so eine technische Sensation war? Oder waren das wirklich auch Leute, die das als, wie soll ich sagen…

Manuel Tessloff: Also, nein. Technisch orientierte Leute waren das nicht. Also, die technisch orientierten Leute kannte ich so aus der Mailboxszene. Das war eine sehr andere Szene, mehr so die Hackertypen. Bei der Piazza, das waren eigentlich Leute, die… Ja, gute Frage, was waren das eigentlich für Leute? Also, ich habe auch einen Typen kennengelernt, der eindeutig ein Hippie war. Also, so lange Haare und gerne mal einen Joint dabei. Aber die meisten waren einfach nur Menschen, die irgendwie gesehen haben, dass irgendwas Komisches passiert und dass man sich das mal genauer anschaut. Neugierige Leute. Es waren wirklich sehr neugierige Leute, so würde ich es halt am ehesten charakterisieren. Also, es gab jetzt keine typische Menschenart (lacht), die wir da getroffen haben.

Interviewer: Sie haben ja grad schon drüber gesprochen, es gab dann den Umzug von Hamburg nach Kassel. Dann musste wieder aufgebaut werden, dann ging der Sendebetrieb los, die Documenta fing an. Und dann gab es halt die ersten Sendungen, die, wie wir auch schon besprochen haben, halt dann den Spitznamen „Hallo-TV“ bekommen haben. Wie war das eigentlich, wenn man da so lange und sehr intensiv auch gearbeitet hat. Und dann ist es endlich soweit und dem Publikum fällt erstmal nichts mehr ein als sich durch „Hallo“ zu Wort zu melden und dann einfach schnell wieder aufzulegen. War das auch eine Enttäuschung oder war man froh, dass es überhaupt funktioniert hat oder wie war halt so das Anfangsverhältnis zu den Sendungen.

Manuel Tessloff: Also, ich habe es nicht als Enttäuschung empfunden. Ich habe mich schon gewundert, warum es nicht mehr Menschen gibt, die daraus einen direkten… die ihr Medium im Prinzip daraus machen. Aber andererseits, als dann langsam klar wurde, wie viele Leute da auch anrufen, wurde mir auch klarer oder hatte ich das Gefühl, es einfach ein Medium ist, was man lernen muss, also, was nicht… Das größte interaktive Fernsehprogramm war glaube ich damals VIVA, wo man mal ein Fax hinschicken konnte und so ein Moderator verlesen würde. Das war das größte, was es im Fernsehen an Interaktivem gab. Dass man sich an so ein ganz neues Format erstmal ein bisschen gewöhnen muss, das war nicht enttäuschend, auch deswegen überhaupt gar nicht, weil wir alle, glaube ich, total froh waren, dass wir was geschaffen haben. Ja, auch nicht ganz selbstverständlich, dass man da auf Sendung geht und das Zeug funktioniert einfach genauso wie man es sich vorgestellt hat. Das war also eher eine erfreuliche Zeit würde ich sagen. Stolz natürlich. Wenn man so lange Zeit gearbeitet hat an etwas, was jetzt live da draußen zu sehen ist. Klar hätte man sich gewünscht, dass ein bisschen weniger Hallos kommen, aber es hat sich auch ganz gut entwickelt dann im Laufe der Zeit, dass es… Die Hallo-Sager gab es immer, aber es gab eben auch viele super kreative Elemente. Laso, haben Sie schon die Show gesehen, wo das 3Sat-Logo plötzlich nach unten gerutscht ist?

Interviewer: Nein.

Manuel Tessloff: Das war glaube ich eine der abgefahrensten Situationen, wo… Wir hatten ja auch eine Dame von 3Sat da, die dann immer dabeisaß und aufgepasst hat und ein bisschen zensiert hat, die echt einen Schreck bekommen hatte, als nämlich einer beim „Beichtstuhl“ angerufen hatte. Und es gab gerade dieses 3Sat-Logo oben rechts oder oben links in der Ecke zu sehen. Und der meinte, er würde jetzt mal beichten, er hätte telepathische Fähigkeiten und könnte mit seinem Geist Dinge steuern, er würde das jetzt mal demonstrieren, indem er zum Beispiel dieses kleine Logo, was da oben in der Ecke ist, jetzt nach unten rutschen lassen würde. Alle so: Ja, ja, klar. Hahaha. Und plötzlich rutscht dieses Logo nach unten. Und das… (lacht) Wirklich alle so: What! Was passiert da gerade? Also ich weiß ehrlich gesagt nicht, wer das tatsächlich gewesen ist. Entweder hat jemand in der 3Sat-Zentrale echt gut aufgepasst und hatte sich einen Spaß erlaubt. Oder ich glaube eher, dass es jemand von 3Sat war, der da angerufen hatte und den Finger auf dem Joystick hatte. Es war auf jeden Fall eine sensationell (lacht) coole Erfahrung und sehr aufregend auch für unsere Zensorin.

Interviewer: Jetzt müsste ich natürlich bei hunderten von Stunden Mitzeichnungen nach dieser einen Szene suchen. Das ist halt… Können Sie sich ja vorstellen. Wir haben da einen unheimlichen Materialberg. Das werden wir auch nie alles sichten können. Also, wir haben jetzt so angefangen so stichprobenweise zu gucken, aber das klingt tatsächlich wie etwas, was man auf jeden Fall finden möchte, ja.

Manuel Tessloff: Das Ding muss ich auf jeden Fall finden. Das ist irgendwo relativ am Ende von der Show. Das muss irgendwo so in den letzten, weiß ich nicht, zwei, drei Wochen gewesen sein. Das ist wirklich sensationell.

Interviewer: Fallen Ihnen sonst noch Höhepunkte ein oder so Beispiele, wo man das Gefühl hatte, es pendelt sich so langsam in so eine Richtung ein, wie wir sie uns vorgestellt haben?

Manuel Tessloff: Also, dass ich jetzt das Gefühl hatte, dass es sich irgendwo einpendelt… Es war halt die ganze Zeit ein kreativer Prozess und es haben sich ständig Dinge verändert. Einfach auch personell haben sich Dinge verändert. Leute sind gekommen, Leute sind gegangen, neue Generationen, die Ideen sind dazugekommen, wir haben zwischendurch Songs gemacht, auch Songs, die gar nicht unbedingt auf Sendung gehen mussten. Wir hatten einen unglaublich coolen chinesischen Kollegen, der damals in unserem kleinen Piazza-Café Kaffee kochte und mittlerweile, glaube ich, in irgendwelchen Saatchi-Galerien als Künstler hängt, also extrem erfolgreich geworden ist, der mit uns in der Bude abhing und dann nachts um drei sich Fisch gekocht hatte, dessen Reste dann irgendwie mehrere Wochen später hinter dem Ofen stinkenderweise hervorzogen wurden. Das sind dann so Szenen, wo wir da auch Songs dazu gemacht hatten und ihn dann interviewt haben und daraus auch einen, ja, kleinen Song gebaut haben. Wir haben Feste gefeiert, gemeinsam auch mit den Leuten in Kassel auf dem Marktplatz und die live übertragen. Und es war, wie gesagt, immer wieder emotional, es war immer wieder eine andere Situation durch die verschiedenen Konstellationen, die sich eingestellt haben. Dann gab es zwischendurch auch mal so die Frage: Hey, können wir uns doch mal alles weiter leisten? Gibt es auch irgendeine Möglichkeit irgendwo Geld herzubekommen, um das Projekt nicht vorzeitig abbrechen zu müssen, haben die Jungs… Also, jetzt ebenso Karel, Salvatore, haben die einfach ganz hart dran gearbeitet und das auch immer hingekriegt. Langweilig wurde es auf jeden Fall nicht. Und das wurde natürlich dann über die Dauer der Zeit, es waren halt echt einige Monate, zum Leben. Man kann sich ja gar nicht mehr vorstellen, wie das Leben ist, wenn man keine Piazza virtuale macht. Und das war eigentlich eher so der Hammer-Moment als man so, die letzte Sendung ist abgespielt, das letzte Mal ist die Melodie gelaufen und das wird jetzt in der Form nicht mehr, auf jeden Fall zumindest nicht hier in Kassel auf dem Marktplatz stattfinden. Das fand ich echt shocking. Das war richtig krass. Und da sind irgendwie viele von uns auch echt in so ein Loch reingefallen. Also, viele wurden auch einfach erstmal krank (lacht), weil es einfach zu krass war. Es war wirklich so, ein anderes Leben konnte ich mir nicht mehr vorstellen zu der Zeit. Für mich war immer klar, dass es endlich war, aber es ist wie es und ich habe dann mit anderen Projekten angefangen. Wird Ihnen wahrscheinlich ähnlich gehen, wenn Sie die Studie abgeschlossen haben (lacht).

Interviewer: Und war kein Stress? Also, diese drei Monate, das hat nicht irgendwie dazu geführt, dass man irgendwie ausgebrannt ist oder sich… Ich meine, auch diese Nachtschichten machen musste. Das konnten Sie wegstecken? Denn das habe ich von anderen auch anders gehört, die auch gesagt haben, sie haben das irgendwie als belastend empfunden und sind dann froh, als es vorbei war.

Manuel Tessloff: Natürlich war das Stress. War unglaublicher Stress, aber es war auch motivierender Stress. Und ich meine, ich habe mich mit meinem Kollegen Daniel Haude … damals haben wir noch währenddessen abends, wenn wir zurück in unserer Unterkunft waren, eine neue Programmiersprache entwickelt, weil wir einfach Bock drauf hatten, weil wir einfach in so einem Modus waren, zu schaffen, irgendwas zu schaffen. Da hatten wir halt irgendwann mal die Idee gehabt: Lass doch mal eine Skript-Sprache bauen. Dann haben wir das gemacht. Und haben ein schönes Handbuch dazu geschrieben. Wir haben das natürlich nirgendwo eingesetzt. Aber das lag daran eben… Ja, es war psychische Belastung, weil es wirklich ein toughes Projekt war, was aber nicht heißt, dass die Ressourcen, auch die körperlichen Ressourcen und die geistigen Ressourcen… Offensichtlich standen die zur Verfügung. Ich weiß nicht, ob ich jetzt 30 oder 25 Jahre später mit so einer Stresssituation umgehen könnte, aber damals war das ganz gut hinzukriegen. Klar haben wir auch gemerkt, dass es Leute gab, für die war es echt ein bisschen zu krass vielleicht, keine Ahnung.

Interviewer: Diese Geschichte, die Sie da grad erwähnt haben mit dem Lied, da wollte ich noch mal drauf zurückkommen, diese Sache mit dem Fisch. Das ist wirklich gesendet worden? Das kommt irgendwo im Programm vor?

Manuel Tessloff: Ich glaube nicht, dass wir das gesendet haben. Das war dann wirklich nur so ein internes Ding, was wir dann auch so auf dem Piazza-Platz da gerade gespielt haben, um eher den Spaß zu haben. Es gab so einige kleine musikalische Dinger, die dann so dabei mit rausgekommen sind und (lacht) Spaß gemacht haben. Es gab dann auch mal so Raps, man rappte ja damals noch. Damals hat man ja auch kein Hip-Hop gemacht, sondern man rappte. Wir hatten das Team zusammengeholt und jeder hat dann irgendwie so, die Vorstellung dessen, was man so als Rap empfunden hat, irgendwie wiedergegeben. Dann haben wir das zusammengestückelt und in kleinen musikalischen Werken… Ich glaube auch teilweise in Sendungen eingesetzt. Irgendwas war immer, irgendwas, was man machen könnte.

Interviewer: Und Sie haben gerade gesagt, Sie haben auch einen… Das habe ich jetzt nicht verstanden, Sie haben ein Handbuch geschrieben für ein eigenes Programm? Können Sie das noch mal kurz erzählen?

Manuel Tessloff: Eigenes Programm? Entschuldigung, da habe ich gerade die Frage nicht ganz verstanden.

Interviewer: Sie haben gesagt, Sie haben auch ein Handbuch geschrieben für eins von den, wollte ich noch mal nachhaken, Programmen, dass Sie jetzt entwickelt haben oder für was jetzt?

Manuel Tessloff: Das war so eine Art Side-Projekt. Damit wollte ich eigentlich nur beschreiben, dass trotz der vielen Arbeit und trotz des toughen Projektes, dass wir gemacht haben, einfach noch Ressourcen genügend zur Verfügung standen, um eben noch mal so ein Side-Projekt abends zu machen und was ganz anderes zu tun. Das ganz andere tun, war eben zu sagen: Lass uns mal eine Programmiersprache schreiben. Und eine Programmiersprache für eine Host-Rechner-Simulation. Also, das war ein totaler Quatsch eigentlich. Es ging nur darum, dass man im Prinzip eine Software hatte, wo sich jemand einloggen kann mit einem Modem auf irgendeinem Rechner und dann wird simuliert, dass er sich auf einem echten Großrechner (lacht) eingeloggt hätte. Und das Programm war dann… Mit dieser Skriptsprache konnte man praktisch dann solche Simulationen schreiben. Also eine etwas wirre Idee. Und dazu dann auch ein Handbuch geschrieben. Das alles aber eher so unter humorvollen Aspekten gebaut. Aber es war eben einfach Ressourcen da, weil wir einfach, wie gesagt, der Motor war angeworfen und der lief dann aber auch die ganze Zeit auf Hochtouren.

Interviewer: Was wir jetzt gerade noch nicht als konkrete Sache angesprochen haben, waren eben diese Interaktionsmöglichkeiten mit Samples im Studio oder den Computern in Kassel. Vielleicht kann man dazu noch was sagen?

Manuel Tessloff: Das war dann auch wieder selbstentwickelte Software, wo wir dann… Wir wussten ja über diesen Message-Bus, den wir irgendwo verbunden hatten, wussten wir ja zum Beispiel, welche Tasten auf einem Tastentelefon gedrückt wurden. Das musste ja irgendwie dann auch interpretiert werden. Also, wenn Sie sich das „Atelier“ vorstellen, wo man eben die Malstifte durch die Gegend schieben konnte und die Farben wechseln, ich glaube, das war Media Director damals. Die Software musste das ja entsprechend erfahren, dass die Taste gedrückt wurde, von der entsprechenden Hardware übe die Taste erkannt hat. Das Gleiche galt natürlich für die Samples. Und auch die Information, die über ein Modem reinkam, also die Texte, die reinkamen, die wurden auch über diesen Bus geschickt und konnten dementsprechend auch von jeder Maschine, die auch dem Bus gelauscht hat, auf ihre eigene Art und Weise interpretiert werden. Und so haben wir das dann so gebaut, dass die Software, die ich geschrieben hatte, die auch dem Bus lauschte, eben bestimmte Keywords erkannt hat, die über einen Check laufen und dann anhand des Keywords entsprechend Midi-Signale kreiert hat. Und diese Midi-Signale wiederum haben dann den Sampler, der die eigentlichen Samples beherbergte, abgespielt. Und ähnlich lief es auch beim Atelier, hatten wir ja auch das Ganze akustisch so ein bisschen begleitet. Und das waren alles Sounds, die sind halt aus dem Sampler gespielt worden, durch Midi-Signale, die praktisch also, zu Hause drückt jemand noch eine Taste vom Telefon, das wird als Ton übertragen. Der Ton wird dekodiert von einer Hardware, die bei uns gebaut wurde. Auf dieser Hardware wird dann irgendwie dieser dekodierte Ton wiederum auf den Nachrichten-Bus gegeben, auf den Message-Bus gegeben. Dann erfährt das wiederum eine andere Software, die dann wiederum das interpretiert und das dann weitergibt an den Sampler, der es wiederum darin interpretiert zu sagen: Ich spiele jetzt mal ein Sample ab und zwar das, was mir da gerade gesagt wurde.

Interviewer: Das klingt nach einer sehr anspruchsvollen Entwicklungsarbeit. Waren Sie denn dann mit den Resultaten zufrieden, die da im Fernsehen stattgefunden haben?

Manuel Tessloff: Meinen Sie die Qualität der Bilder und der Musikstücke, die entstanden sind? (lacht)

Interviewer: Wie die Leute damit umgegangen sind.

Manuel Tessloff: (lacht) Jain. Also, nein, es hängen natürlich… Gut, man hätte sich natürlich auch ästhetisch anspruchsvollere Dinge vorstellen mögen. Es war vielleicht am Anfang erstmal so: Hm, wow, das ist ja eine totale Kakophonie, die jetzt entsteht. Können die Leute nicht mal so ein bisschen aufeinander achten? Ja, das war schon so diese Frage. Das ist aber ohnehin ja so eine Frage, die man so als Musiker hat. Oder man sieht einen Menschen, teilweise auch Kinder, ich habe einen Haufen Kinder, die auch gerne mal Instrumente in die Hand nehmen und die natürlich noch gar nicht darin trainiert sind, aufeinander zu hören. Ja, beim Musizieren geht es ja auch zum großen Teil einfach nur ums Hören, also wenn man ein Beispiel nimmt: Hören, was spielt der andere, um dann darauf dann wiederum einzahlen zu können. Und dieses Hören, was spielt der andere, das hat einfach nicht stattgefunden und das fand ich tatsächlich schade. Andererseits waren es eben auch keine Musiker, die sich da getummelt hätten. Wenn man jetzt Kraftwerk gebeten hätte, dieses Interface zu benutzen, bin ich sicher, dass da andere Dinge bei rausgekommen wären, weil die auch gewohnt sind, aufeinander zu hören oder andere Musiker eben. Aber wenn wir vier oder fünf wildfremde Leute aufeinanderhetzen und sagen: Hier pass mal auf. Da hast du eine Geige und Trompete und ein paar Samples, dann muss man sich nicht wundern, dass es jetzt nicht zum nächsten Sommerhit wird. Andererseits gab es natürlich auch Leute, die dann schon verstanden haben, dass man hier rhythmisch arbeiten kann zum Beispiel und versucht hatten dann irgend so was rhythmisch vorzugeben, aber dann oft auch Pech hatten mit den anderen Leuten, die in der Leitung waren, die das nicht so aufgenommen hatten, wie man es als Musiker vielleicht aufnehmen würde.

Interviewer: Und diese Touchtone-Technologie, die war ja damals auch noch ganz neu. Können Sie dazu vielleicht noch was sagen? Wie war das überhaupt dann mit so einer Technologie, die ja noch gar nicht an jedem Telefon verfügbar war, zu arbeiten?

Manuel Tessloff: Also, da kann ich gerade gar nicht so viel zu erzählen, aber wenn ich mich recht entsinne, war das tatsächlich eine extrem alte Technologie, die gab es ja schon Ewigkeiten. Also, auf jeden Fall meine ich mindestens in den Siebzigern, nur eben nicht in Deutschland. Da hatten wir ja noch die ganzen Wahltelefone. In den Staaten hatte man die Tastentelefone ja schon viel länger etabliert. Also, eine neue Technologie war das eigentlich nicht, dass man praktisch mit diesen Tasten Sounds kodiert oder Sounds erzeugt hat, die praktisch die Kodierung des Tones dann machten. Es gab ja auch schon damals auch automatisierte Anrufentgegennahmesysteme, wo man sich so durchstellen konnte mit irgendwie: Drücken Sie jetzt bitte die 1. Hat man da…

Interviewer: Aber zum Beispiel eine Kritik, die auch in einigen Zeitungsartikeln vorkommt, dass gesagt wird, ich kann mich da… „Mein Telefon hat das gar nicht.“
In Deutschland war das auf jeden Fall neu, aber das hat Sie jetzt nicht vor technische Probleme gestellt oder das war jetzt nicht irgendwie ein zusätzliches Komplexitätslevel, dass dadurch entstanden ist?

Manuel Tessloff: Das war eine Kritik, die damals kam? Also bezüglich der Touchtones?

Interviewer: Ja, also da hat ein Rezensent geschrieben: Ich kann da sowieso nicht mitmachen, weil ich halt so eine alte Wählscheibe habe.

Manuel Tessloff: Okay. Verstehe. Ja, das kann sich natürlich keiner vorstellen, der irgendwie sein Leben mit viel Technologie verbringt, dass man kein Touchtone-Telefon zu Hause hat, kein Tastentelefon. Ja, aber ich meine, wie hätten wir das lösen sollen? Also, dass ist da eben die Möglichkeit wirklich so das einfachste Device, was wirklich eigentlich jeder zu Hause stehen hat oder sagen wir mal, was viele Leute zumindest zu Hause stehen haben, zu nutzen, um tatsächlich so eine Interaktion zu machen, die eben nicht Stimme und nicht Sprache ist. Dann hätte er sich auch drüber beschweren können: Meine Güte, da gibt es jetzt einen Text-Chat und ich habe kein Modem. Das ist irgendwie ähnlich. Es war ja nicht so, dass man sich einfach auf eine Webseite begeben hätte und dann da im Fernsehprogramm mitmachen konnte. Man musste sich ja mit einem, wie auch immer gearteten 19 200 Baud Modem auf einer Telefonnummer einwählen. Das war ja auch schon eine Technologie, die jetzt nicht so irrsinnig weit verbreitet war.

Interviewer: Ging mir jetzt mehr darum, wenn man Anwendungen für diese halt in Deutschland neue Technologie gemacht hat, dann gab es keine, also anders als bei den Musikprogrammen und Beta-Versionen, da gab es nicht irgendwie erstmal diese Anlaufschwierigkeiten, dass man da mit einer neuen Technik ausmachen musste.

Manuel Tessloff: Also, musste man sich damit arrangieren. Es gab übrigens damals auch schon für normale Wahlscheibentelefone so kleine Pieps-Dinger, die man ans Telefon halten konnte, die kosteten irgendwie 3,50 Mark oder so was, die simulierten praktisch genau diese Töne. Und das haben wir dann auch gerne mal Leuten gesagt, wenn sie meinten, sie hätten nur ein Wahlscheibentelefon. Die konnten das, glaube ich, damals bei Conrad kaufen oder so was für ein Appel und ein Ei. Ich habe dann…

Interviewer: Damals hatte ich so was auch. Ja, ja. Genau. Ja, gut. Also die drei Monate oder die hundert Tage sind vorbei, Sie haben erstmal ein tiefes Loch. Was sind denn so die Langzeitauswirkungen gewesen? Da ist ja offensichtlich sehr viel innovative Technologie entwickelt worden, die man möglicherweise auch Fernsehsendern hätte anbieten können, aber soweit ich das bisher verfolgt habe, ist das eigentlich nicht passiert oder gab es…

Manuel Tessloff: Ja, doch, wir haben das ja… Wir haben das ja mit Fernsehsendern nachher immerhin noch dreimal ausgestrahlt, was natürlich eine sensationelle Fortsetzung der ganzen Geschichte war. Ich habe es nicht ganz im Kopf, wann das war. Das muss glaube ich so ungefähr ein Jahr später, ein halbes Jahr später. Da waren ja… Benjamin, Christian und ich dann ja nach Tokio gefahren oder geflogen mit einigen Koffern an Technologie (lacht) im Schlepptau und haben Piazza virtuale dann auf Japanisch beim dort immerhin, ich glaube, einem der größten Fernsehsender, NHK, live gemacht, zusammen mit einem großen japanischem Team. Also NHK wie gesagt, also großer japanischer Sender, Japaner natürlich unglaublich Spaß an Technologie und an Dingen, die man ausprobieren kann. Und dann gab es dann eben Piazza virtuale. Wurde erstmal in Deutschland vorbereitet, dann in Tokio an drei Tagen… Insofern, ja, gab es dann irgendwie so diese Fortsetzung, aber natürlich nicht in einem… Oder was heißt natürlich nicht? Also, es wurde nicht zu einem Standard-TV-Programm. Woran das jetzt liegt, das kann ich allerdings nicht sagen. Ich weiß nicht, ob das mit dem Mut oder ja, mit dem Mut von Fernsehmachern zu tun hat, ich weiß es nicht. Aber man darf nicht vergessen, das ist ja auch irgendwie so ein riskantes Projekt. Also es hat ja einen Grund gehabt, weshalb ein Zensor dabeisaß, weil wenn die Leute alle bunt durcheinander ihre inneren Inhalte in ein Fernsehprogramm übergeben dürfen, dann ist das ja auch eine Sache, wo man echt höllisch aufpassen muss, dass da nicht irgendwelche Sachen über den Fernsehsender laufen, die ja, nicht sein dürfen.

Interviewer: Aber jetzt auch jenseits von dem gesamten Programm mit dem Anrufen und der Teilnahme des Publikums wären ja einzelne Elemente von diesem sich selbst steuerndem Studio möglicherweise fürs Fernsehen interessant gewesen. Gab ja auch dann bei ZDF direkt einen Kontakt. Das hat aber nie dazu geführt, dass von Fernsehanstalten gesagt worden ist: Könnten wir uns mal mit einem bestimmten Detail von dem, was Sie da entwickelt haben, genauer beschäftigen?

Manuel Tessloff: Also, ich habe es nicht mitbekommen. Ich weiß nicht, ob es da Gespräche diesbezüglich gab. Und da bin ich dafür auch nicht der richtige Ansprechpartner, weil ich mit diesen Themen Business und Kontakt zum Sender und so sehr, sehr wenig zu tun hatte. Also, eigentlich gar nichts.

Interviewer: Okay. Es gab ja auch noch das Projekt Service Area nach Piazza virtuale, waren Sie da auch dran beteiligt?

Manuel Tessloff: Ja, da war ich auch noch dabei. Da hatten wir ja dann auch das ganze Thema, dass… Also, einerseits habe ich damals an einer Software geschrieben für die Voice-Box, wo Leute dann anrufen konnten und sich praktisch in virtuellen Räumen, sich auch wiederum durch die Gegend bewegen und in diesen Räumen unterhalten konnten. So ein Projekt, was damals ja auch zum Beispiel dann irgend so ein kleines… Es gab damals auch so ein Projekt, was in Hamburg gestartet wurde. Komme ich jetzt gerade nicht drauf. Also, im Prinzip ja, ein virtuelles Gebäude, wo man sich treffen kann. Das haben wir aber auch übersetzt dann in so eine Live-Situation bei der Ars Electronica, dass wir auch eine dreidimensionale Soundstage gebaut haben, die vielleicht so sechs mal sechs Meter groß war, glaube ich und so einen Haufen Lautsprecher drüber gehängt haben und praktisch die Räumlichkeit dieser virtuellen Welt, Umgebung, akustischen Umgebung und die Räumlichkeit übertragen haben in das reale Leben. Das heißt, man konnte also wirklich hören, wo sich Leute in der Voice-Box befanden, indem man sich auf so eine Bühne bewegt hat. Und dann selber auf der Bühne wurde man entsprechend getrackt. Und dann konnten wir das wiederum übersetzen, wo sich die Person befand mit Mikrofon und das wiederum zurückzugeben in die virtuelle Welt der Voice-Mailbox. Das war schon sehr, sehr ulkig. Also auch echt ein super spannendes Projekt, da hatten wir auch bei uns sehr, sehr coole Leute mit dabei.

Interviewer: Und wie kam es dann… Oder was war das Ende für Sie mit Ponton? Also, wann sind Sie ausgestiegen und warum?

Manuel Tessloff: Ich war noch dabei bis ungefähr 1995, 1996 als wir an „Word within“ gearbeitet hatten. Das war dann auch wieder ein Kunstprojekt im Rahmen der Olympiade in Atlanta. Das habe ich noch mit vorbereitet. Aber dann ging es tatsächlich auch bei mir los, wo ich dachte: So es müsste jetzt langsam so eine Situation geben, wo ich mich auch ökonomisch ein bisschen anders orientiere und auch Geld verdienen möchte. Und ja, da habe ich mich dann entsprechend… Da habe ich ein Jobangebot bekommen und habe dann erstmal angefangen, ein bisschen Software zu entwickeln gegen Geld.

Interviewer: Und dass da dieser kulturelle, künstlerische Teil vielleicht nicht mehr so ausgeprägt ist, das haben Sie akzeptiert dann, dass man nicht auf immer in diesem Spannungsfeld bleiben kann?

Manuel Tessloff: Ja, das war für mich dann auch okay. Es war für mich okay. Und ich meine, ich bin ja auch nicht wirklich als Künstler sozusagen in die Situation reingekommen, sondern ich bin als medienschaffender Softwaremensch zu der Truppe dazugekommen. Es hat mir total Spaß gemacht, mich in diesem künstlerischen Umfeld zu bewegen. Es hat mir vor allen Dingen unglaublich viel beigebracht. Und ich habe ja, wie gesagt, das Informatikstudium auch nicht zu Ende gemacht, aber würde diese gesamte Zeit, die ich mit Salvatore und Mike und Benjamin und Karel verbracht habe, auch irgendwie als meine Ausbildung eigentlich auch mit bezeichnet. Also, da habe ich einfach unglaublich viel gelernt darüber, wie man eben konzeptionell denkt, wie man Konzepte wirklich umsetzt, wie man Energie einsetzt und daraus was Erfolgreiches macht. Aber es war dann eben auch der Zeitpunkt für mich, zumindest für meine eigene Karriere zu sagen, so… Was heißt Karriere? Für meine eigene Entwicklung zu sagen: Okay, es muss noch was anderes passieren in meinem Leben. Das heißt, aber noch lange nicht, dass man nicht vielleicht auf seine Art und Weise auch weiterhin Kunst macht. Und das mache ich bis heute auch weiterhin, so etwas wie Klangkunst oder Video oder irgendwelche anderen Dinge. Aber auch mit der Freude, einfach das zu nehmen, was man an Material hat und damit einfach loszulegen und zu arbeiten und zu schauen, was dabei rauskommt.

Interviewer: Und das wäre jetzt… Sie haben jetzt meine letzte Frage sozusagen schon beantwortet. Was ist so langfristig ihr, was van Gogh TV betrifft, was das persönliche Resümee betrifft, das haben wir eigentlich jetzt gerade gehört, aber wenn Sie jetzt mal jenseits davon sich überlegen, das Projekt als Ganzes, was kann man da sagen, wo steht das da so in der Mediengeschichte und in der Evolution der Medien?

Manuel Tessloff: Also, das wurde ja eigentlich dann so klar als YouTube kam und die kollaborativen Möglichkeiten des Webs wirklich mal deutlich wurden. Wo damals noch alle rumgestänkert haben und gesagt haben: Ist doch Quatsch mit so einer Videoplattform. Da werden doch sowieso nur fertige Videos hochgeladen. Und da habe ich schon gedacht: Nein, nein, nein. Das ist eben genau das, was wir damals eigentlich so auch versucht haben. Nämlich zu sagen: Hey, du hast hier eine Plattform, jetzt mach mal. Und dieses „Du hast hier eine Plattform, jetzt mach mal.“ ist natürlich jetzt in unterschiedlichsten Ausprägungen draußen im Web zu sehen. Aber es war schon eine Art… Ich meine, ich glaube nicht, dass wir jetzt YouTube inspiriert haben, das zu tun, aber das war ein Teil auf diesem Weg, um überhaupt dahinzukommen und auch das Web zu so einem kollaborativen Ort zu machen. Also wir kamen aus einer Zeit, wo es einen riesigen Aufschrei gab, was jemand in einem Use-Net-Post untergebracht hat, also in Form von drei Textzeilen, irgendwie „Kauft bei mir eure Modems“. Und wir so: „Ey, Kommerz und Internet, das passt ja überhaupt gar nicht zusammen.“ Dann haben wir danach diese komische Zeit erleben dürfen, dass 1996 der Spiegel titelte „Das Netz“. Und wir dachten so: „Hä? Wieso das Netz? Das war doch schon immer (lacht) da.“ Aber es war eben dann erst für die Allgemeinheit da. Und dann konnten wir eben sehen: Aha, schau mal. Das war für mich so die Erkenntnis: Schau mal, das, was wir damals eigentlich im Fernsehen versuchten zu machen, hat jetzt eine Plattform oder ein Medium gefunden, was das viel einfacher macht, diese Dinge zu tun, nämlich den Menschen zum Teil des kreativen Prozesses zu machen. Andererseits, wenn ich mir jetzt aber anschaue, was auch aus Instagram und YouTube so in der breiten Masse geworden ist, muss man natürlich auch sagen, dass man auch nicht damit unbedingt rechnen soll, dass, wenn man vielen, vielen Menschen die Möglichkeit gibt, sich kreativ auszutoben, es dann immer irgendwie was bringt.

Interviewer: Also, würden Sie sagen, dass Piazza virtuale so ein frühes soziales Medium, wie man heute so sagt, gewesen ist?

Manuel Tessloff: Könnte man fast sagen. Also, soziales Medium, ich habe ja vorhin kurz erwähnt, dass auch Leute die Piazza virtuale als Anrufbeantworter genutzt haben. Ja (lacht), das war schon so ein bisschen Social Media sozusagen. Aber nein, weniger als soziale, weniger das Connecten, sondern eigentlich auch vielmehr so das Nutzen einer Öffentlichkeit, um in dieser Öffentlichkeit etwas zu transportieren, was aus einem selber eben rauskommt, also was Kreatives zu transportieren. Das haben wir mit als erstes sicherlich damals gemacht. Und das ist ja etwas, was heute eigentlich, das ganze große Thema des World Wide Web letzten Endes ist, zum Teil.

Interviewer: Okay. Toll. Vielen Dank. Das waren Fragen, die ich stellen wollte. Ich wollte die Gelegenheit auch gleich noch mal nutzen, um zu fragen, was das Unternehmen, das Sie ja jetzt gegründet haben und leiten, was das macht? Also, vielleicht gibt es ja auch noch Berührungspunkte mit Piazza virtuale?

Manuel Tessloff: Naja, also ich meine, die Berührungspunkte sind da, was mich, wie gesagt, das ganze Leben seit Piazza virtuale, auch schon vorher, begleitet hat, dass man eben, wenn man eine Produktidee hat oder eine Konzeptidee hat, dass man sie einfach umsetzen muss, einfach ohne lange nachzudenken einfach mal loslegt und dann im Zweifelsfall auch ein bisschen, – naja, man kann es vielleicht hacken nennen, – hackt und experimentiert, um zu einem Ergebnis zu kommen. Also, was wir hier machen bei ReAct sind ja zwei Dinge. Einerseits eine innovative Klanglösung für Retail. Also da schließt sich der Bogen zum Thema Klang, obwohl ich den Klang hier nicht selber mache, sondern Technologie gebaut habe, mit der man in Retail-Situationen verschiedenen Zonen mit synchronisiertem Audio beschallen kann.

Interviewer: Retail heißt Geschäfte, Supermärkte?

Manuel Tessloff: Supermarkt. Supermärkte. Genau. In Supermärkten läuft unser Klang und in der Weinabteilung klingt das total anders als es in der Obst- und Gemüseabteilung klingt. Aber alles harmoniert miteinander und wird ganz, ganz leise gespielt und ist im Prinzip so was wie akustisches Licht. Das heißt, sie denken nicht darüber nach, sie merken auch nicht großartig, aber es ist einfach da und es sorgt dafür, dass sie sich wohlfühlen beim Einkaufen.