Interview mit Wolfgang Bergmann, 24.04.2018
Wolfgang Bergmann begleitete Piazza virtuale als Redakteur und ist heute Geschäftsführer des öffentlich-rechtlichen Kultursenders arte.
Interviewer: Also, dann würde ich Sie als Erstes mal bitten, sich kurz vorzustellen.
Wolfgang Bergmann: Mein Name ist Wolfgang Bergmann. Ich bin Koordinator von arte hier im ZDF. Und in weiterer Funktion Geschäftsführer von arte Deutschland.
Interviewer: Gut. Dann gehen wir gleich in medias res. In der Zeit als das Piazza virtuale vorbereitet worden ist und auch gesendet worden ist, was war da Ihre Position und was war Ihre Aufgabe in dem Zusammenhang?
Wolfgang Bergmann: Ich war damals bei 3sat, schon ein paar Jahre. Und dort in einer Mischfunktion tätig. Ich hatte dort angefangen kurz nach Beginn der Sendetätigkeit von 3sat. Das war im Jahr 1986. Also 3sat hat begonnen 1984 und ich bin 1986 während meines Studiums dazugekommen und habe als Presseassistent mir ein Zubrot verdient während meiner Studienzeit. Und wie das damals so war in Anfängen – 3sat entwickelte sich sehr gut und recht schnell als eines der ersten Satellitenprogramme in dieser ersten medialen Revolution – ist die Arbeit dann immer mehr geworden. Ich habe neben der Tätigkeit als Pressereferent – der ich dann relativ schnell wurde – auch einzelne Sendungen betreut. Weil 3sat mehr und mehr auf der Suche nach einem eigenen Profil war und begann, Dinge auch zu produzieren, zu koproduzieren oder interessante Sachen, die auf dem Markt waren, eben exklusiv auch in seinem Programm anzubieten. Mein Spezialgebiet war eigentlich damals Theater. Das heißt, ich habe dann angefangen Theaterproduktionen redaktionell zu betreuen. Aber insgesamt war mir die Kunstszene nicht fremd. Insofern hatten wir alle eine relativ breite Aufmerksamkeit für das, was passiert. Ich bin letztlich schon durch meine Pressearbeit, recht gut orientiert gewesen, was „on“ ist und was die interessanten Entwicklungsfelder sind. Dazu gehörte natürlich auch die Ars Electronica, die ein relativ frühes Feld der exklusiven programmlichen Angebote von 3sat war und zwar durch den Partner ORF. Das war zunächst gar nicht das ZDF, sondern 3sat ist ja traditionell ein Partnerprogramm von ZDF, ORF und damals SRG, also Deutschland, Österreich und der Schweiz gewesen. Und der österreichische Partner, also der ORF, hat sich sehr früh mit der Ars Electronica und auch dem Ingeborg-Bachmann-Preis eingebracht. Das hieß damals Kultur- und Ereignisberichterstattung. Also man ist auf kulturelle Ereignisse großflächig eingegangen, hat von dort berichtet. Und die Ars Electronica war schon damals eine der innovativsten Kunsttechnologiemärkte auf der ganzen Welt und man pilgerte schon dorthin und insofern fanden wir das wichtig, von dort zu berichten. Eines der Projekte bei der Ars Electronica war das Hotel Pompino. Und das war in gewisser Weise ein Vorläufer des Piazza-virtuale-Projekts. Und über das Hotel Pompino, das damals eben als Einbringung des ORF an uns herangetragen worden ist, hatte ich meine erste Begegnung mit der „Bande“.
Interviewer: Bevor wir Hotel Pompino uns ein bisschen genauer angucken, würde ich gerne noch einen Schritt zurückgehen, weil Sie gerade auch das Wort von der Medienrevolution selbst schon benutzt haben, vielleicht können Sie einfach mal so kurz die mediale Situation in der Zeit umschreiben. Da ging es los mit dem Kabelfernsehen, da ging es los mit dem Privatfernsehen, Satelliten sind erwähnt worden, also können Sie mal so die Großwetterlage so ein bisschen darstellen Mitte der 80er Jahre?
Wolfgang Bergmann: Also die Großwetterlage war zaghafter Aufbruch, Abschied vom dualen Monopol der Öffentlich-Rechtlichen als einzige Fernsehprogramme. Satellitenfernsehen. Daher auch die Namen „Sat“, Sat1, 3sat, das rekurrierte alles auf den Satellit als das neue Verbreitungsmittel. Der Satellit hat das Monopol gebrochen und es war der erste Schritt, die Verknappung der Verbreitungswege aufzulösen. Damals natürlich noch UNDENKBAR, dass diese Verbreitungswege irgendwann mal verhunderttausend- oder vermillionenfacht würden. Es war der Einstieg nicht nur für das Privatfernsehen, sondern auch für das öffentlich-rechtliche Fernsehen zu sagen: Wir machen nicht nur unsere Mainstream-Hauptangebote, sondern wir nutzen das zur medialen Diversifizierung und öffnen damit das Programm auch für anderes. Und deswegen haben wir 3sat auch relativ früh „Anders Fernsehen“ genannt. Das war sogar damals ein studentischer Einfall von mir, als ich in der Presseabteilung war. Lustigerweise ist das noch heute der Slogan von 3sat – Anders Fernsehen. Ja, und das hatte viel damit zu tun, wie wir damals „drauf“ waren, alternative Formen finden, Subkulturen betrachten, kulturelle Gegenströmungen ins Auge fassen – das war die Kultur, die uns geprägt hat. Und das sickerte natürlich dann auch im einen oder anderen Fall ins Fernsehen ein und veränderte das Kulturfernsehen.
Interviewer: Gutes Stichwort, denn in der Literatur, also zu der Fernsehwissenschaft, gibt es so einen Gedanken, dass so ab Mitte der 70er Jahre, dass so eine Form von Mitmachfernsehen immer wichtiger wird, so Sendungen aufkommen wie Spiel ohne Grenzen, in gewisser Weise auch Wetten dass, da gab es ja dann auch diese Saalwetten oder diese Stadtwetten und so weiter, und so fort – würden Sie sagen, dass so was wie Piazza virtuale da auch irgendwie in so einer Tradition steht, dass man versuchte, das Publikum stärker mit einzubeziehen, wenn auch noch unter den Bedingungen des Massenmediums Fernsehen?
Wolfgang Bergmann: Natürlich haben wir daran gedacht und damit operiert und haben gesagt: Das ist in gewisser Weise die Fortsetzung von „Wünsch dir was“ mit anderen Mitteln. Weil die waren, glaube ich, die Ersten mit „Licht an, Licht aus“; Elektrizitätswerke wurden lahmgelegt durch diese interaktiven Abstimmungsprozeduren, die mit dem Lichtschalter von Vivi Bach und Dietmar Schönherr inszeniert wurden. Und als wir dann den Begriff des interaktiven Fernsehens hatten und auch mitgeprägt haben, glaube ich, da in dieser Diskussion, hat das eine Rolle gespielt. Auch zu sagen, es ist im Prinzip gar nichts Neues, aber wir haben uns nur sehr bedingt in der Tradition dessen gesehen. Gut, ein bisschen spielt das schon mit. Weil streng genommen ist das ja auch eine Interaktion mit dem Publikum gewesen und die Interaktion mit dem Publikum war einer der Faktoren, die uns dann natürlich nachher bei Piazza virtuale auch interessierte.
Interviewer: Gut, kommen wir zurück zu Hotel Pompino, kurze Beschreibung erst mal, worum hat es sich dabei gehandelt? Und es ist eigentlich für die Ars Electronica produziert worden, aber wie hat das im Fernsehen für den Zuschauer ausgesehen?
Wolfgang Bergmann: Also ich habe an Hotel Pompino nur noch eine sehr marginale Erinnerung. Damit war ich persönlich auch nicht SO stark befasst. Ich habe es ein bisschen gesehen, kann mich erinnern, dass es sehr viel performativer war und virtuelle Räume gebildet und benutzt hat. Das war EXTREM innovativ für meine Begriffe. Also, ich sage mal, all das, was heute virtuelles Studio ist oder so, ist damals im Grunde genommen vorweggenommen worden in vieler Hinsicht. Und das fanden wir schon UNGLAUBLICH interessant. Das haben wir gesehen. Und alles andere war, wie soll ich sagen, eine Mischung aus Chaos und Schmäh. Niemand hat das damals so wahnsinnig ernst genommen. Auch als Theatermensch habe ich mich dafür interessiert, aber ich fand das ziemlich dadaistisch und ziemlich ausgerissen, ziemlich österreichisch auch auf eine bestimmte Art und Weise. Aber ich erinnere mich gut, dass ich das eher als performativ spielerisches Format begriffen habe, denn als interaktives Format, obwohl es solche Elemente ja auch beim Hotel Pompino, glaube ich, schon gab.
Interviewer: Aber viel weniger, glaube ich, als nachher beim Piazza virtuale. Einfach nur um so ein paar Zahlen zu haben, können Sie sich noch erinnern, wie viele Stunden… ist, glaube ich, so richtig täglich gelaufen? Oder, ja, wie war das? Ja, wie war (unv. gleichzeitiges Sprechen) Sendeplan (unv.)?
Wolfgang Bergmann: Hotel Pompino?
Interviewer: Ja.
Wolfgang Bergmann: Nein, das ist nicht täglich gelaufen. Das ist während der Ars Electronica portionsweise ausgestrahlt worden. Es wird sicherlich auch eine Dokumentation darüber gegeben haben, es wird sicherlich auch in Magazinbeiträgen behandelt worden sein, aber die Stundenzah? Es sind mehrere Stunden ausgestrahlt worden.
Interviewer: Also bei YouTube findet man Mitschnitte ohne Ende. Niemand weiß wer, aber jemand hat es hochgeladen, aber es ging jetzt so um die persönliche Erinnerung. Das muss scheinbar zumindest schon so beeindruckend gewesen sein, dass man sich überlegt hat: Mit diesen Leuten würden wir gerne weiter zusammenarbeiten? Oder wie entstand dann die Idee für das Piazza virtuale?
Wolfgang Bergmann: Ja, wir fanden es alle… also nein, alle nicht, also das kann man nicht sagen. Aber ein paar Leute fanden das interessant. Die österreichischen Kollegen, damals Peter Zurek, leider inzwischen verstorbener Chef der ORF-Truppe, die für 3sat gearbeitet hat. An sich kein schriller Avantgardist, auch von seinem Lebensalter her nicht unbedingt, aber er war verliebt in dieses Projekt und hat sich dafür sehr engagiert und hat immer zu dem Team gehalten und es unterstützt. Auch finanzielle Mittel mit da reingesteckt. Also der war da ein ganz wesentlicher Treiber. Und ich habe mich, wie gesagt, deshalb dafür interessiert, weil ich es als Theatermensch interessant fand. Ich habe es auch als eine Erweiterung des theatralen Spektrums begriffen. Da könnte man jetzt auch sehr lange über Theaterbegriff sprechen und was mit dem Theater in dieser Zeit los war. Und wie sich in Wellenbewegungen auch immer wieder Kunst, Performance und traditionelles Sprechtheater aufeinander zu und voneinander wegbewegt haben. Ich würde sagen, das war damals zwar nicht sehr dicht am Theater, aber es hatte starke Komponenten, die für mich als Theaterinteressierten spannend erschienen. Und der zweite Punkt war, dass ich gemerkt habe: Das ist was Neues. Da passiert was, da wird mit Elementen gespielt, die ich so noch nicht gesehen habe. Man muss dazu sagen, das ist die Ironie der Geschichte, ich bin ein totaler Low-Techy. Und damals schon gerade erst recht ein absoluter Low-Techy! Also ich gehöre zwar eigentlich potenziell zur Generation, die mit den ersten Ataris und so hätten umgehen können. Ich habe nicht dazu gehört. Ich habe mich lange für Computer 0,0 interessiert, bin selber damit nicht umgegangen. Meine Hemmschwelle, das Ganze überhaupt da ernst zu nehmen, die war relativ groß. Das heißt ich verstand technologisch davon nichts. Oder sagen wir mal nur… theoretisch war mir das natürlich schon ungefähr klar, was da passiert, und ich habe mir das auch angeguckt und mich dafür interessiert, aber ich war kein heavy User und schon gar kein heavy Creator oder Doer in diesem Feld. Mein Interesse kam aus einer anderen Richtung. Es war eher, dass mich das neugierig gemacht hat.
Interviewer: Was ja dann bei Piazza virtuale auch eine Rolle gespielt hat.
Wolfgang Bergmann: Es hieß übrigens bei uns oft Pizza virtuale als Spitzname.
Interviewer: War diese Mailbox, über die man chatten konnte, Benjamin ist ja auch sehr stolz darauf, dass sie tatsächlich schon Internetanschluss hatten, auch wenn es für die Sendung selbst keine Rolle gespielt hat inhaltlich – also das waren Sachen, mit denen Sie überhaupt keinen aktiven Kontakt gehabt hatten?
Wolfgang Bergmann: Na ja, so kann man das jetzt auch wieder nicht sagen. Also mir war das schon ungefähr klar, was da passiert. Aber ich bin kein Techniker gewesen. Und ich war kein Computerspezialist, ich kann nicht programmieren und die Aufgabe, eine traditionelle, analoge Stereoanlage zu verkabeln, war damals das Äußerste, zu dem ich technisch in der Lage war. Und das ist bis heute tendenziell auch so geblieben. Aber mir war schon klar… also mir war das Internet ein Begriff, das wusste ich schon. Das muss man sich ja immer heute auch noch mal klarmachen, wo wir da waren Anfang der 90er Jahre. Das Internet WAR kein Begriff. Das wussten einige Leute, aber es war jetzt nicht für… also man ist damit nicht alltäglich umgegangen, geschweige denn, dass es Mobiltelefone gab, beziehungsweise, wenn es welche gab, dann hatten die Ausmaße von Bodenfunkstationen und das Bildtelefon, mit dem damals operiert worden ist, das war für uns so ein bisschen in der Nähe von „Raumschiff Enterprise“. Also das war echt noch absolut futuristisch. Und, ja, was soll ich sagen? Man hat dann aber trotzdem zwei und zwei zusammengezählt und verstanden, da kommt was auf uns zu.
Interviewer: Gut, es gab die Bekanntschaft mit Van Gogh TV, es gab eine Sympathie – wie ist dieses Projekt jetzt konkret angegangen worden? Also von wem sind da die ersten Schritte ausgegangen? 3Sat hat gesagt: Macht doch mal was für uns? Oder haben die gesagt: Wir haben so eine Idee, wollt ihr nicht mitmachen?
Wolfgang Bergmann: Also zum Thema Sympathie muss man sagen, wir sind, glaube ich, umeinander rumgelaufen mit einem gerüttelten Maß an Skepsis und zwar vice versa. Für die meisten hier und, sage ich mal, in so einem traditionellen Haus wie es das ZDF damals war, konservativ, waren das doch sehr schräge Vögel, die da unterwegs waren. Und ich sage mal, sie sind ja auch mit einer gewissen Schrägheit aufgetreten damals. Also, das ganze Auftreten war doch deutlich das von österreichischen Performancekünstlern, und das war in einer gut „katholisch“ geführten, zentralen Sendeanstalt wie dem ZDF, erst mal gewöhnungsbedürftig. Obwohl wir natürlich hier im Rahmen der Kunst- und Kulturberichterstattung alle schrägen Vögel hatten, aber das waren schon besondere Kameradinnen… also Kameraden waren es ja eigentlich. Und insofern hatten die nicht nur Freunde. Ich fand sie super spannend, wenn auch super anstrengend im Umgang, weil es die Tendenz gab doch eher zu verbergen, was sie tun. Also sie sind nicht gekommen und haben ganz klar gesagt, was sie vorhaben, sondern sie haben es eigentlich nur in groben Zügen skizziert und man konnte annehmen, dass sie das auch absichtlich gemacht haben. Und das war mir schon auch klar. Insofern, ich werde wahrscheinlich im Verlauf dieses Gesprächs den Begriff, den liebevoll gemeinten Begriff Banditen noch häufiger verwenden, es war also ein bisschen so eine Banditentruppe, deren Seriosität durchaus umstritten war auch im Kollegenkreis. Ich habe aber zum einen oder anderen aus dem Team dann doch ein immer besseres Verhältnis bekommen. Ich glaube, weil die auch gemerkt haben: Der interessiert sich dafür und insofern ist der auch nützlich, könnte vielleicht uns auch helfen. Und, ja, insofern bin ich relativ früh eingeweiht worden in diese Idee – auf der Documenta –, diese Piazza virtuale zu machen. Und habe das dann nach Kräften eben auch unterstützt und wir haben dann überlegt, was könnten wir machen? Wie könnten wir das machen? Wie gesagt, Peter Zurek vom ORF, der das irgendwie dann immer auch unterstützt hat, war da extrem nützlich, weil er damals schon in der Leitung von 3sat war. Und ich war ja ein ganz junger Anfänger eigentlich, Jungredakteur dort noch. Aber dadurch, dass ich eben Pressearbeit gemacht habe, habe ich immer unmittelbar auch Zugang zur Geschäftsleitung gehabt von 3Sat, namentlich Walter Konrad, der damals der verantwortliche 3sat-Koordinator war, der Leiter der Zentralredaktion damals, Engelbert Sauter. Das waren alles doch Kollegen, zu denen ich sehr guten Zugang hatte und denen ich dann auch nicht müde wurde, mit ahnungsloser Leidenschaft dieses Projekt zu verkaufen. Und ich sage ahnungsloser Leidenschaft, weil ich wirklich einerseits ungefähr ahnte, was die vorhaben, aber es keineswegs genau wusste.
Interviewer: Ja, da schließt die nächste Frage gleich an: Was hatten die sich denn vorgestellt? Also es gab offenbar den Fixpunkt Documenta, wir wollen da was machen, aber war das von vornherein als Fernsehprojekt gedacht? Oder hätte man das auch in diesem Containerdorf belassen können und da jeden Abend Programm für…
Wolfgang Bergmann: Hätte man, aber ich habe dann halt… oder wir haben dann eben miteinander sehr schnell diesen Gedanken geboren: Wenn ihr das da schon macht, dann lasst es uns doch auf den Sender hängen, weil dann wird die Sache eigentlich erst wirklich richtig spannend. Und ich kann nicht mehr beschwören von wem die Idee und Initiative ausging. Ich könnte mich jetzt relativ leicht dafür melden, die Wahrscheinlichkeit ist auch nicht klein, dass ich den Vorschlag gemacht habe, aber ich will mir auch keine falschen Lorbeeren umhängen, ich weiß es tatsächlich nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich an diesem Prozess aktiv beteiligt war, auch an diese Idee, das wirklich auf den Sender zu bringen. Ich weiß, dass wir viele Gespräche geführt haben hier miteinander und dass die Kollegen auch in der Geschäftsleitung eigentlich sehr wohlwollend damit umgegangen sind, muss ich echt sagen. Also das war ja dann deutlich noch mal eine andere Generation, die schon mal gerade GAR nicht wussten, worum es da geht. Aber die Experimentierfreude eigentlich sowohl bei Konrad als auch bei Sauter war da relativ groß. Und das war auch ein bisschen damals natürlich die Stimmung. Weil Sie ja vorhin fragten, was war denn für eine Stimmung oder für eine Atmosphäre? Wir waren dazu da, auch Dinge mal auszuprobieren. Experimente zu machen, das konnte man damals. Wir sind nicht erstickt unter Publikum, die Verbreitung von 3sat war noch eher homöopathisch dosiert, man konnte auch deshalb noch ein bisschen was ausprobieren.
Interviewer: Und, um einfach so ein bisschen auf die Zeit ein Auge zu haben, wann stand so das Konzept, mit dem man dann zur Geschäftsführung gehen konnte, um zu sagen: Das ist jetzt unsere Idee für diese Documenta-Geschichte – wie lange hat das gedauert, bis das durch die Instanzen gegangen ist? Wann hat man sich entschieden das tatsächlich zu machen?
Wolfgang Bergmann: Das Ganze hatte bestimmt keinen längeren Vorlauf als ein paar Monate. Also das war jetzt nicht so, dass man das ein Jahr vorher wusste. Datieren kann ich es nicht mehr. Aber ich erinnere mich, dass es einerseits ein längerer Prozess war, bis sich das so richtig rausgeschält hat: Was und wie und wann? Dass wir auch selber relativ lange gewartet haben, also da war ich auch durchaus dann Komplize, bis wir es dann so vollständig gesagt haben, was wir da vorhaben. Und ich würde mal vermuten, fest stand es so etwa zwei bis drei Monate vor Sendebeginn.
Interviewer: Heute unvorstellbar, oder?
Wolfgang Bergmann: Wir machen auch heute noch Wahnsinn. Aber so was ist, glaube ich, heute schwer vorstellbar. Ja.
Interviewer: Weil es ja doch eigentlich den, also Außenstehenden, relativ große, programmliche Autonomie und Freiheit überantwortet hat. Das war ja wahrscheinlich zu dem Zeitpunkt schon klar, dass das es eigentlich um ungefiltert, möglichst ungefilterten Publikumsinput gehen würde.
Wolfgang Bergmann: Gut, das sind natürlich so Punkte, puh, wie soll ich sagen? Darüber haben wir uns einerseits viel Gedanken gemacht, auf der anderen Seite führten die auch zu nichts. Weil hätte man das jetzt, sage ich mal, nach Buchstabe und Gesetz behandelt, hätte man gleich sagen müssen: Geht nicht. Und gleichzeitig haben wir natürlich gesagt: Das ist Kunst. Das ist ein Kunstwerk, das ist ein Kunstprojekt und… es ist leider weggerutscht, ich habe da hinten… ich habe nur eine einzige Reliquie, ich stelle gerade fest, die ist hinter den Schrank gerutscht, die muss ich wieder hervorholen. Das ist eine Handschrift von George Tabori, auf der steht drauf: Die Kunst darf nicht alles, aber sie tut es doch. Und das war natürlich für uns, für mich immer auch ein Credo. Ich glaube, das ist auch richtig. Und das zu vertreten und dafür einzustehen und auch heute daran zu erinnern, dass, wenn jemand was darf und auch Grenzen überschreiten darf, dann ist es die Kunst. Und wir sind gut gefahren, wenn wir ihr das gelassen haben. Aber wir sind natürlich hier in der Abteilung Vermischtes unterwegs gewesen. Man kann trefflich darüber streiten: Kann Fernsehen überhaupt Kunst sein? Kann man Fernsehen ungefiltert für audiovisuelle Kunstprojekte öffnen? All das sind so Fragen. Und die haben wir damals vielleicht auch tendenziell gestellt, beantwortet haben wir sie nicht. Am Ende des Tages muss ich sagen: Chapeau, auch allen damals Programmverantwortlichen gegenüber, sie haben es unterschrieben!
Interviewer: Was war denn die Ansage, die Sie bekommen haben, was für ein Programm ist das?
Wolfgang Bergmann: Puh, das war nicht wirklich richtig bekannt. Also was an Programminhalten wirklich passieren würde, das wurde erst mal nur so vage skizziert. Es war klar, man kann malen. Also malen war ja auch unverfänglich, also man dachte: Ja, so Montagsmaler für alle, das ist… Aber man muss sich auch immer mal vorstellen, das war damals das… kaum zu transportieren, jemandem klarzumachen, wir machen jetzt hier ein Projekt, bei dem können Menschen, die über ein Tastentelefon verfügen – das waren damals nicht alle, viele hatten noch Wählscheiben – also, wir reden vom Telefon, nicht Smartphone, sondern Tastentelefon, miteinander malen. Also, wenn man ein Tastentelefon hat, dann kann man bei Piazza virtuale auf dem Fernsehbildschirm und auf der Fernsehoberfläche malen. Das war so, wie wenn man jemandem erzählt: Also wir machen jetzt was, da fliegen die Walfische über den Binger Wald. Das konnte man sich nicht vorstellen. Und das waren dann so Stories, die man natürlich dann gerne aufgenommen hat und: Hast du schon gehört, man kann dann da malen mit dem Telefon. Dass das nicht die einzigen Programmelemente werden würden, das war so pfh… wurde nur in Häppchen auch rausgelassen – auch von den Künstlerinnen und Künstlern, also von Van Gogh TV selbst. Die haben natürlich den Teufel getan, uns genau zu erzählen, was sie da vorhaben. Aber es war dann auch bekannt, dass sie die Bildtelefone an verschiedenen Orten verteilen, und dass von diesen Bildtelefonen eben Live-Übertragungen ausgehen und Live-Ansagen passieren können und verschiedenes mehr. Aber ich wiederhole, die Elemente wurden in SEHR homöopathischen Dosen uns mitgeteilt.
Interviewer: Was war der, wie soll ich sagen… die Leistung, die 3Sat eingebracht hat? Also da war die Sendezeit. Hat es auch ein Budget gegeben? Hat es auch Technik, technische Unterstützung gegeben, Satellitenzeit?
Wolfgang Bergmann: All das, ja. Allerdings muss man sagen, es ist meiner Erinnerung nach wenig Geld bezahlt worden an die Gruppe. Das war anders finanziert. Aber wir haben natürlich anständige Kosten gehabt allein durch die Sendetechnik, die Leitung, die Satellitenzeit, also da wurde einiger technischer Aufwand auch beigestellt. Das haben wir auch sehr großzügig gemacht, wo Technik fehlte oder so, da haben wir dann auch beigestellt und geholfen, wo man konnte. Alfred Hillen, damals unser Produktionschef, der hat da getan, was er konnte. Aber ich kann beim besten Willen nicht mehr sagen, wie viel Geld das war. Ich weiß noch nicht mal, ob ich es damals wusste. Aber es war nicht viel! Es waren keine gewaltigen Beträge.
Interviewer: Also bei 3Sat herrschte die Haltung: Mal sehen, was die so produzieren, wir sind gespannt. Jetzt spulen wir mal vor zur Eröffnung der Documenta, die Sendung beginnt, man hat jetzt dieses Nachtprogramm, wo am Anfang ja erst mal offenbar nicht so viele Leute angerufen haben und wenn, dann nur um Hallo zu sagen. Wie war das so? So die erste Reaktion, als das ganze Baby dann wirklich auf der Welt war und im Fernsehen war.
Wolfgang Bergmann: Na ja (lachen), Baby auf der Welt. Ich war damals relativ jung und junger Vater von drei Kindern, ich hatte drei kleine Kinder zu Hause. Und irgendwann ist mir klargeworden, dass das möglicherweise auch nicht ohne ist, was wir da angerührt haben. Und ich war ja jetzt mal irgendwie schon auch… hatte da als Redakteur, oder stoffführender Redakteur unterschrieben. Auch wenn ich damals jetzt nicht Direktor war oder Redaktionsleiter, aber ich war redaktionell dafür verantwortlich. Und mir war schon klar, dass da möglicherweise Dinge auf mich zukommen können, die ausgesprochen unangenehm werden. Und mir waren auch die Programmrichtlinien des ZDF durchaus vertraut, die auch für 3Sat-Produktionen gelten. Und mir war sehr bewusst, dass Situationen entstehen können, die problematisch sind und die man auch schwerlich rechtfertigen kann. Weil man muss sich jetzt auch diese Zeit Anfang der 90er nicht als eine Zeit, in der jetzt nur mit Wattebäuschen geschmissen worden ist, vorstellen. Viele Konflikte aus der Zeit davor waren noch nicht ganz aus der Welt. Und viele Konflikte aus der Zeit, die kommen würde, waren schon absehbar. Da könnte man jetzt eine Menge dazu sagen. Aber so war das in der Zeit, das war eine durchaus auch politisch brisante Zeit. Und es war die Zeit des frühen vereinten Deutschlands mit all den Sensibilitäten, Unsicherheiten, Fragilitäten, die diese Konstruktion damals auch hatte. Und insofern unsere Aufgabe war, ist und wird bleiben, dass wir zur Integration beitragen, dass wir Beleidigungen, Schmähungen, Diffamierungen gegenüber Minderheiten nicht zulassen, beziehungsweise aus dem Programm halten – all diese Dinge, die eigentlich menschliche Grundwerte sind, sind ja auch Bestandteil unseres Programmauftrags. Und wir haben als Redakteurinnen und Redakteure darauf zu achten, und hatten es auch damals, dass das Programm entsprechend ist. Wie sich das allerdings mit einem weitgehend unberechenbaren und von einer unbekannten Zuschauerschaft und Öffentlichkeit mit abhängigen, von wahnsinnigen Künstlerinnen und Künstlern gestalteten, hunderttägigen Fernsehsendung Nacht für Nacht entwickeln würde, das wusste ich nicht, das wussten wir nicht, und insofern nahm die Spannung zu. Und wir haben uns natürlich auch überlegt: Wie gehen wir überhaupt damit um?
Interviewer: Aber jetzt vielleicht, da kommen wir gleich noch mal drauf zu sprechen, aber vielleicht noch mal kurz die allerersten Tage: Die Sendung läuft, es rufen erst mal nicht so viele Leute an, sieht man schon auf den ersten Videos – haben da nicht hier die Programmverantwortlichen oder Ihre Vorgesetzten die Hände über den Kopf zusammengeschlagen, gesagt: (lachend) Was haben wir uns denn da aufschwatzen lassen? Dead Air? Es passiert nichts.
Wolfgang Bergmann: Nein. Nein, nein, so war das nicht. Es war erst mal so, dass man da saß, also ich ganz physisch die erste Nacht und ich… wir überlegt haben: Um Gottes Willen, was passiert denn da jetzt eigentlich und hoffentlich geht da auch nichts schief. Was machst du denn da, wenn jetzt jemand „Tötet Helmut Kohl“ ruft.
Interviewer: Was ja noch passiert ist, da kommen wir gleich noch drauf zu sprechen.
Interviewer: Bevor wir darauf zurückkommen, noch mal, Sie haben gar nicht (unv. gleichzeitiges Sprechen)
Wolfgang Bergmann: Und insofern waren wir gewarnt. Wir wussten, dass was passieren kann. Und insofern saß ich da erst mal und habe das Ganze verfolgt. Vor mir war ein Telefon.
Interviewer: Jetzt muss ich mal dazwischengehen, also Sie saßen… physisch heißt: Vor dem Fernseher in Mainz oder zu Hause?
Wolfgang Bergmann: Vor dem Fernseher. Zu Hause. Bei mir zu Hause in unserer Wohnung. Und habe mir das angeguckt und hatte eine Standleitung nach Kassel und es war…
Interviewer: Wenn man da so Bedenken hat, hätte man sich natürlich auch gleich nach Kassel begeben können, um da Umtrieben ein Ende zu bereiten, bevor sie aus dem Ruder laufen – warum ist das nicht passiert?
Wolfgang Bergmann: Das war eine Mischung aus Pragmatismus und Klugheit, würde ich mal sagen. Pragmatismus, weil ich mich ja in dem, was ich damals gemacht habe, nicht einhundert Tage aus meinem Alltagsgeschäft hier in Mainz ausklinken konnte. Und Klugheit, weil es wahrscheinlich auch vernünftig war, dort jetzt nicht vor Ort als Redakteurs-Fremdkörper, Zensor… was sollte die Rolle sein? Auf der anderen Seite, wenn man dort ist, dann ist man auch Teil der ganzen Geschichte und dann fängt man an mitzugestalten, nicht? Das ist die Ambivalenz. Auch: Bewerten wir das Ganze wie eine reguläre Fernsehsendung? Oder ist das ein Gesamtkunstwerk, was wir dokumentieren, was wir zeigen, was wir laufen lassen, was wir zur Verfügung stellen? Es war ein bisschen eine Mischung aus beidem. Wir haben uns bei der Gestaltung sehr wenig eingemischt, außer dass wir natürlich Feedback gegeben haben, Vorschläge gemacht haben: Macht das anders, macht das besser, gebt da was dazu, nehmt davon was weg – das war ein permanenter, ständiger Dialog, der da stattgefunden hat.
Interviewer: Was waren dann solche Vorschläge zum Beispiel?
Wolfgang Bergmann: Puh. Also zum Beispiel im Ablauf. Das war ja ein Ablauf von verschiedenen Elementen, ja? Eine Weile wurde gemalt und eine Weile war der Chat offen und eine Weile war für die Bildtelefone da, ich weiß nicht, was es sonst noch alles an Elementen gegeben hat. Und dann hat man natürlich sehr oft darüber gesprochen, wie viel ist von was genug? Wie ist die richtige Komposition der verschiedenen Elemente? Was ist eigentlich spannend? Und dann hat man natürlich auch darüber gesprochen, wie stimuliert man überhaupt das Verständnis? Also, wie macht man durch zusätzliche Informationen auf dem Bildschirm klar, worum es geht? Was wird denn hier eigentlich gespielt? Das waren so die Themen, über die wir gesprochen haben. Und dann hat man schon natürlich auch zu der einen oder anderen Einspielung Fragen gehabt und hat gesagt: Wer ist jetzt der nette, Arabisch sprechende Herr, der von dieser Moscheekanzel aus zu uns spricht, was sagt der da eigentlich so im Einzelnen? Ich war des Arabischen auch nicht so mächtig, konnte das nicht beurteilen. Das waren auch dann so Momente, wo man manchmal dachte, vielleicht möchtest du es jetzt auch gar nicht so genau wissen. Also wir wussten schon, dass wir uns auf einem ziemlich heißen Ritt befinden. Und das Schöne ist, alle haben das hier zugelassen. Und es gab auch eigentlich niemanden, der laut geschrien hätte: Was ist denn das für ein nutzloser Blödsinn? Sondern manche haben überhaupt nicht verstanden, was das soll. Andere haben schon gesagt: Das ist aber Quatsch. Aber es hat keiner gesagt: Das machen wir jetzt aus, also das stellen wir jetzt ab – das hat es tatsächlich nicht gegeben. Ich kann mich nicht erinnern, dass das irgendwann mal ernsthaft von irgendwem erwogen worden ist, selbst DANN nicht, als es eng wurde.
Interviewer: Da kommen wir gleich noch drauf. Aber um noch mal auf das Thema zurückzukommen: Inwiefern war der Sender da vor Ort präsent. Katrin Brinkmann hatten wir ja gerade schon erwähnt, da scheiden sich schon die Geister, niemand ist sicher, ob sie von Anfang an dabei war, oder ob sie dann erst später dazu gezogen worden ist. Wie ist das gewesen?
Wolfgang Bergmann: Auch das weiß ich nicht mehr hundertprozentig. Ich würde sagen, sie ist von Anfang an dabei gewesen. Weil ich gesagt habe, ich brauche auf jeden Fall jemanden, der dort vor Ort die Sache mitvollzieht und mitkriegt und erlebt. Katrin war damals Praktikantin, Trainee würde man, glaube ich, heute sagen, bei uns. Und hatte sich ausgesprochen interessiert und geschickt angestellt, ist jemand gewesen, der eben auch sehr kunstinteressiert und experimentierfreudig war und gleichzeitig jung und unabhängig, was jetzt mal… man kann ja normalerweise nicht mal so eben einhundert Tage woanders hin, und da wir keinen langen Vorlauf hatten, hat sich sehr kurzfristig die Frage gestellt: Wer könnte das machen? Und dann habe ich sie gefragt, ob sie sich das vorstellen könnte, und sie sagte, ja. Und meiner Erinnerung nach war sie von Anfang an dabei. Sie wird es selber besser wissen.
Interviewer: Ja, aber ist ja interessant, wie das von verschiedenen Leuten erinnert wird, weil eine Version dieser Geschichte ist halt, dass es da irgendwann halt diesen Anruf gegeben hat, wo jemand „Tötet Helmut Kohl“ geschrien hat und danach ist auf Senderdrängen halt ein Zensor geschickt worden. Wo sich dann auch viele Geister scheiden, ob sie wirklich so einen Knopf vor sich hatte, um den Ton abzustellen – das wird sie uns dann noch genauer erzählen. Aber was war jetzt vom Sender aus ihre Aufgabe? Dabei sein und?
Wolfgang Bergmann: Nein, es war schon klar, dass das Problem entstehen könnte, dass sich Leute aufschalten auf den Sender, so wie das heute bei Facebook diskutiert wird – das ist ja das Irre, ALL die Sachen, die heute uns auf den Tisch fallen, die sind damals im Ansatz erkennbar gewesen. Dass jemand das ausnutzt, um Dinge zu verkünden oder von sich zu geben, die nicht in Ordnung sind und die MEHR als nicht in Ordnung sind, die ehrverletzend sind, die möglicherweise inkriminierend sind oder die nach unseren Gesetzen und nach den Dingen, wie wir miteinander als Menschen in Deutschland vereinbart haben zusammenzuleben und in Österreich und in Schweiz, dass das nicht geht. Und dann ist die Frage: Wie gehst du damit um? Und wir haben uns natürlich auch die Frage gestellt: Wenn jetzt was passiert und wir intervenieren, dann sind wir natürlich auch ganz schnell die Zensoren und wir sind die Kunstverhinderer und wir machen das alles nicht möglich – das war natürlich ein Riesenthema. Und ich habe gesagt: Ey, Leute, wir wollen nicht Kunst verhindern, wir wollen das Projekt nicht behindern, auf der anderen Seite müssen wir auch unsere Regeln einbehalten, und wir müssen jetzt irgendwie miteinander versuchen zu vereinbaren, dass wir das eine tun, ohne das andere zu lassen. Und noch einmal: In meiner Erinnerung war Katrin Brinkmann von Anfang an dabei. Es ist aber definitiv so, als dann sich abzeichnete und dieser Satz: Tötet Helmut Kohl, der übrigens nur so rausgeschlenzt irgendwie irgendwo… aber der war natürlich erstens erwartet, weil es diese Schlingensief-Diskussion damals eben gab und auch damals gab es schon die Nachahmungstäter und es war ungefähr absehbar, dass irgendjemand sozusagen als Nachahmungstäter diesen Satz als Provokation, wenn er kapiert hat, was da passiert, über den Äther schickt – und prompt ist es auch passiert. Und das war damals schon, sage ich mal, ein Kaliber, das hätte einem MASSIV Ärger einbringen können. Ist ja auch nicht in Ordnung, muss man sagen. Man kann nicht einen Aufruf starten, jemanden umzubringen, das ist nicht in Ordnung! Das würde ich auch heute noch sagen, das geht nicht, kann man nicht machen, und wenn es tausendmal Kunst ist – ist ein Blödsinn. Und als es dann eben passierte, Gott sei Dank ohne, dass es großartig publik geworden wäre, ein bisschen schon, aber nicht… es war kein Big Thing, haben wir dann gesagt: Ja, wir müssen irgendwie einen Mechanismus erfinden, wie wir das unterbinden. Und dann gab es tatsächlich… aber das haben wir auch miteinander besprochen, es war jetzt nicht so, dass ich gesagt habe: Jetzt kommt der Zensor und alle mal weg – sondern wir haben überlegt, wie gehen wir damit um? Also, entweder wir können es so nicht machen, wir müssen das Live-Haftige da rausnehmen – geht aber nicht, weil das Spiel geht nur live – oder wir müssen dafür sorgen, dass an so einer Stelle eingeschritten wird. Und das war die Aufgabe von der Katrin, daran mitzuwirken, an diesem Prozess, wie die das vor Ort genau organisiert haben? Weiß ich nicht.
Interviewer: Können wir nächste Woche… aber ihre Aufgabe war im Grunde das, was man heute Content Moderation bei Facebook zum Beispiel nennen würde?
Wolfgang Bergmann: Das kann man so sagen. Und sie war für mich auch… ihre Aufgabe war auch, mich mittelfristig wieder in einen ruhigen, regelmäßigen Schlaf zu überführen, weil mir war klar, ich halte das, obwohl ich ja damals noch sehr jung war, nicht lange aus (lachen).
Interviewer: Können Sie sich sonst noch an Höhepunkte der Sendung erinnern oder auch Tiefpunkte? Was waren so Sachen, die jenseits von diesem „Tötet Helmut Kohl“ für Aufmerksamkeit gesorgt haben?
Wolfgang Bergmann: Na ja, also der Höhepunkt der ganzen Geschichte war für mich schon, dass man einfach mehr und mehr gemerkt hat, wie diese Sachen dann wirklich auch zusammenwirken. Und die wurden ja dann im Umgang damit auch immer souveräner. Es gab… dieser Weg zu diesem: Hallo, Hallo, Hallo, Hallo, mit Echo vom Anfang… am Anfang war das nur stundenlang Hallo, Hallo, Hallo, Hallo – weil die Menschen, die dann da drauf waren, ja auch gar nicht kapiert haben, dass sie es sind und dass sie mit einem anderen können. Und ich weiß, dass ich das dann über die Tage hinweg… und ich habe es insbesondere natürlich am Anfang sehr konsequent verfolgt, was da passiert… Beizuwohnen diesen kollektiven Erkenntnisprozess, dass da eine unsichtbare Crowd von Leuten, Community von Leuten würde man heute Neudeutsch sagen, etwas entdeckt und beginnt, damit virtuell umzugehen, wie das langsam zusammenwächst, wie man dann plötzlich merkt: Ah, jetzt haben sie tatsächlich kapiert, wenn der eine den Strich macht, dann kann der andere den Strich machen. Und dann wird daraus ein Krakelmännchen. Das ist wie ein Geburtsprozess gewesen. DAS ist das Interessante an der ganzen Geschichte, dass die immer stärkere Ausdifferenzierung dieser interaktiven Komponente… die war faszinierend. Und man hat gemerkt, dass das, was nachher letztlich hierin gemündet hat, (zeigt auf sein Smartphone) dort in den wesentlichen Komponenten vorgemacht worden ist und zum ersten Mal zusammen gedacht. Wer es verstanden hat, der hat in diesem Projekt das iPhone, das am Netz hängt, vorausgesehen.
Interviewer: Aber vorhin fiel das Wort Community. Inwiefern ist denn eine Gruppe von Menschen, die eigentlich so ein Zufallsprinzip, vielleicht hundertmal, tausendmal angerufen, einmal durchkommen, zusammengewürfelt wird, inwiefern können die wirklich eine Gemeinschaft bilden? Das ist ja auch bei Facebook, ist ja ein bisschen die Frage, da sind zumindest alle Teilnehmer potenziell immer gleichberechtigt teilnahmeberechtigt. Das war ja doch eher so ein Zufallsmob, der da zusammengekommen ist.
Wolfgang Bergmann: (lachen) Ja, also ich bin mir sicher, dass die Van Goghies und auch, dass Katrin Brinkmann über die Art und Beschaffenheit der Community viel mehr weiß, ich habe nur so punktuelle Zufallsbeobachtungen. Man hat schon gemerkt, da gibt es einerseits die üblichen Verdächtigen, die da sich immer reingeben. Es gibt die mit exhibitionistischen Tendenzen, es gibt die, die das vielleicht aus politischen Gründen haben nutzen wollen, es gibt die Freaks, es gibt die Technik-affinen, die gespürt haben, da geht was – also es gab unterschiedliche Leute. Aber es gab eben auch die Leute, die gemerkt haben, da kann man jetzt irgendwie was mit machen. Und auch diejenigen, die wahrscheinlich gemerkt haben, das kann man jetzt dazu nutzen, seine eigenen Interessen durchzusetzen.
Interviewer: Können wir das vielleicht ein bisschen konkreter machen? An was erinnern Sie sich? Oder auch noch mal die vorherige Frage: Was sind so Sachen, die Sie persönlich… wo Sie besonders gute Erinnerungen dran haben, was sich da so entwickelt hat an konkreten Dialogen, Situationen?
Wolfgang Bergmann: Naja, die haben dann schon auch angefangen miteinander über… mit sich zu reden. Also wie gesagt, ich wiederhole es noch einmal, der Verlauf vom Hallo, Hallo, Hallo zum: Ah, da bist du ja wieder und wie geht es dir? Und der Interaktion zwischen den… also der Chat, der praktisch stattgefunden hat. Aber jetzt muss man sich das ja nicht so vorstellen, dass das Millionen waren, die da gechattet haben, sondern es waren, wenn ich mich richtig erinnere, vier, die gleichzeitig aufgeschaltet waren. Es kann sein, dass es später sogar auch mehr waren, aber ich erinnere mich an in der Regel vier.
Interviewer: Plus Chatfenster aus (unv. gleichzeitiges Sprechen)
Wolfgang Bergmann: Und dann die Texte, die eingegeben werden konnten. Und der Differenzierungsprozess von einer allgemeinen Kakophonie zu ganz konkreten Informationen, Tipps, Hinweisen, Verabredungen, die dann gemacht worden sind – und das hat man gesehen und da hat es natürlich permanent geklickert im Kopf. Da hat man gesagt: Ach so! Das passiert, wenn diese Komponenten miteinander sind. Ich muss sagen, was in gewisser Weise nicht so spannend war, waren diese Bildtelefongeschichten. Ich habe mich immer gefragt: Wo ist der Unterschied? Das können wir mit Kameras und mit Live-Übertragungen besser. Das sieht besser aus, das sind aber dann mehr oder weniger doch inszenierte Bilder oder Live-Speeches oder was es da nicht alles gab, Performance oder so, das fand ich alles schlechter als das, was wir so im Fernsehen machen konnten oder mit den Mitteln des Films machen konnten. Das Spannende war für mich die Interaktion der verschiedenen Kommunikationsebenen. Definitiv, die Telefonie kommt mit der Bildgestaltung zusammen und daraus entsteht etwas Drittes, was mit Kommunikation zu tun hat. Das ist der Moment, den ich auch nicht vergessen werde, mein ganzes Leben. Weil das war ein echter Aha-Effekt.
Interviewer: Wenn das so ein Aha-Effekt war, wenn sich da in dieser Zeit so was Spannendes entwickelt hat, hätte man auch sagen können: Da machen wir jetzt eine regelmäßige Sendung draus und das machen wir jeden Sommer – was war so die Resonanz und warum hat so was dann nicht stattgefunden?
Wolfgang Bergmann: Ich wollte das. Und wir haben dann damals auch darüber nachgedacht und auch gesprochen. Die Bereitschaft im Sender, das so fortzuführen, war nicht besonders groß. Und ich hatte dann aber eigentlich auch den Eindruck, dass das Team diese einhundert Tage nicht, wie soll ich sagen, in trauter Einmütigkeit bewältigt hatte. Und es sind ja dann alle auch mehr oder weniger verschiedene Wege gegangen. Das sind vier sehr starke Persönlichkeiten gewesen, die auch unterschiedliche Interessen, glaube ich, verfolgt haben, und jeder eine eigene Farbtemperatur auch mitgebracht hat und eingebracht hat. Und, ja, das war so ein Projekt. Und so ein Projekt ist manchmal dann auch vorbei und dann muss man es auch, glaube ich, vorbei sein lassen. Es gibt noch einen anderen Punkt: Es war vor der Zeit. Wir dachten ja damals auch, wir heben die Welt aus den Angeln. Und ich würde schon sagen, wir wussten am Ende, was da passiert ist. Wir wussten, was da passiert ist. Und die Van Gogh TV Crew litt ja auch nicht unter übertriebener Bescheidenheit, die haben das auch deutlich vor sich hergetragen. Aber der Erfolg im Sinne davon, dass es irgendwie die ganze Welt gemerkt hätte: Jetzt ist hier eine Revolution passiert – der blieb ja aus. Oder sagen wir mal, er war nicht so groß. Es gab schon eine Menge Presse, es war schon eins der auffälligeren Projekte. Wobei die Documenta sich zu Piazza virtuale sehr ambivalent verhalten hat. Ich glaube nicht, dass die wirklich kapiert haben, was sie da für ein Ding hatten. Ich glaube, dass es eins der visionärsten Projekte ÜBERHAUPT irgendeiner Documenta war! Aber ich glaube nicht, dass der Documenta selber das klar war. Es war auch dem ZDF oder 3sat nur bedingt klar, woran man da teilhatte. Und das sind immer Indizien dafür… Und dem Publikum auch nicht! Das sind Indizien dafür, dass bestimmte Dinge vor der Zeit sind. Und dann muss man es auch erst mal auf sich beruhen lassen.
Interviewer: Okay, wunderbar, ein tolles Schlusswort. Vielen Dank für das Gespräch. Das war es!