Minus Delta T (1978-1988)

Minus Delta t (oder −Δ t) war eine Gruppe, die zwischen Musik- und Kunstszene eine kaum näher zu klassifizierende Form der „Life Art“ geschaffen hat. Die Gruppe, die sich nach einem mathematischen Phänomen benannt hatte, wurde 1978 in Zürich von Mike Hentz, Chrislo Haas und Karl Dudesek gegründet, drei künstlerischen Autodidakten, die sich zuvor in der alternativen Kunst- und Musikszene betätigt hatten.

In den zehn Jahren ihrer Aktivitäten bildeten Hentz und Dudesek den personellen Kern der Gruppe, zu der während ihres Bestehens ein knappes Dutzend weiterer zeitweiliger Mitglieder stießen (u. a.  Wolfgang Georgsdorf, Gerard Couty,  Malika Ziouech, Gérard Couty, Padeluun), nachdem Chrislo Haas die Gruppe verlassen hatte, um als Musiker mit den Bands Deutsch-Amerikanische Freundschaft (DAF) und Liaisons Dangereuses elektronische Musik zu machen.

Das Bangkok-Projekt, 1982-1984:

Zu den Aktivitäten, die Minus Delta t in der deutschen Kunst- und Musikszene bekannt machten, gehörten Auftritte in der frühen deutschen Punk- und New-Wave-Szene wie zum Beispiel bei dem Festival „Geräusche für die 80er” in der Hamburger Markthalle, von dem auch ein Mitschnitt auf dem Neue-Welle-Label Zick Zack veröffentlicht wurde, und beim „Shvantz”-Festival an der Frankfurter Städel-Schule. Bei diesen Auftritte waren Provokationen und die Konfrontation mit dem Publikum wichtige Elemente, gelegentlich kam es – wie auch bei ihren Performances im Kunstkontext – zu Handgreiflichkeiten. Minus Delta t hat auch zwei Alben mit Musik veröffentlicht: ein Doppelalbum mit Aufnahmen, die während des „Bangkok Projekts” entstanden waren (1984) und ein Dreifachalbum mit ihrem Performance-Konzert „Opera Death” (1987).

Das „Bangkok Projekt” ist die bekannteste und spektakulärste Aktion von Minus Delta t. Die Gruppe transportierte ab 1982 einen 5 Tonnen schweren Felsbrocken aus Wales nach Asien transportiert wurde. Die Reise ging durch Deutschland, Österreich, Jugoslawien, die Türkei, Syrien, den Libanon, den Iran, Pakistan und Indien und endete 1984 beim „Bangkok Festival“ in der thailändischen Hauptstadt. Während der Reise trafen sie unter anderem den österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky, den Fluxus-Künstler Ben Vautier, den Dalai Lama und den Papst, der den Stein im Vatikan segnete.

Seiner Zeit voraus war aus heutiger Sicht, dass die „künstlerische Feldforschungsreise” teilweise durch den Verkauf von „Kunstaktien” finanziert wurde – lange vor dem Crowdfunding der Gegenwart, aber auch bevor Joseph Beuys sein Aktion „7000 Eichen, Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung” in Kassel durch den Verkauf von Grafiken und Anteilscheinen finanzierte.

Minus Delta t waren mehrmals zur ars electronica in Linz eingeladen. 1987 trat die Gruppe im Performanceprogramm der Documenta 8 als „Kulturpolizei“ auf und gestalteten das Abendprogram in der Kasseler Disco New York mit. Auch wenn die körper- und aktionsbetonte situative Kunst von Minus Delta t auf den ersten Blick wenig mit den Fernsehprojekten von Van Gogh TV gemeinsam hatte, gibt es durchaus Gemeinsamkeiten: So gehörte zu den Besonderheiten der Arbeit beider Gruppen zunächst, dass es sich immer um kollektive Aktivitäten mit oft Dutzenden von Kollaborateuren handelte. Besonders Mike Hentz war neben Minus Delta t in einer Reihe von Kunstkollektiven aktiv, unter anderem bei dem Videokunst-Netzwerk Infermental, Frigo und Radio Bellevue.

Das „Bangkok Projekt” war genauso ein Kraftakt wie später „Piazza virtuale”, die beide den Maßstab von „normalen” Kunstprojekten überschritten. Um solche aufwendigen Projekte durchführen zu können, wurden beim „Bangkok Projekt” wie bei „Piazza virtuale” Sponsoren gesucht, die diese Aktivitäten übernahmen. Ein weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass diese Aktionen oft die Beteiligung des Publikums erforderten.

Die Kulturpolizei, 1987:

Nicht zuletzt war die Arbeit bei Minus Delta t immer auch auf die Nutzung der jeweils zur Verfügung stehenden Medien ausgerichtet: So wie beim „Bangkok Projekt” bereits ein Ministudio mit Film- und Videokameras mitgeführt wurde oder Minus Delta t im Himalaja eine „philosophische Datenbank” auf einem Sinclair-Computer in den Berg einmauerten (1985), so waren bei dem Auftritt auf der documenta 1987 im „Medienbus” der Gruppe neben einem Video- und Tonstudio auch schon Computer vorhanden, mit denen man unter anderem – wie in einer Art frühem Internet-Café – die amerikanische Mailbox The W.E.L.L. nutzen konnte. Ein ähnliches Projekt hatten Kit Galloway und Sherrie Rabinowitz mit ihrem Electronic Café 1984 bei der Olympiade in Los Angeles durchgeführt.

Außerdem enthielt der Bus Videoschnittplätze, die von dem Videokunstvertrieb 235 Media zur Verfügung gestellt worden waren, und einen Radiosender, der während der documenta ein eigenes Radioprogramm ausstrahlte. Dieser wurde zunächst von der Bundespost als Piratensender geortet, dann aber als „Klangkunstwerk“ deklariert wurde und damit zum Teil der Ausstellung. Auch bei diesem Sender gab es – wie bei „Piazza virtuale“ – bereits die Möglichkeit, sich per Telefon ins Programm einzuschalten. Wie die Piazza zwischen den Containerstudio bei „Piazza virtuale“ war auch der Medienbus als Treffpunkt und Produktionszusammenhang gedacht, wo documenta-Besucher bei Workshops mit dem Chaos Computer Club, dem Radiokollektiv Rabotnik aus Amsterdam oder 235 Media aus Köln die Nutzung von Medientechnologien erproben konnten. Diese Aktivitäten können auch als Vorläufer von partizipativen Kunstprojekten betrachtet werden, wie sie die Kuratorengruppe ruangrupa für die documenta 2022 plant.

Im Rückblick ist der genaue Umschlagspunkt schwer festzumachen, an dem Minus Delta t endete und Van Gogh TV begann. Als die Gruppe 1986 bei der Ars Electronica unter dem Titel „The Project“ ein Container-Studio neben dem Bruckner-Haus in Linz aufbauten und aus dieser eigene Fernsehprogramme ausstrahlten, kann man dies als direkten Vorgänger von „Piazza Virtuale” betrachten. Ein anderer Titel der Aktion, „Ponton”, wurde in den folgenden Jahren die Name der Organisation, die als Veranstalter der Aktivitäten von Van Gogh TV auftrat.

Link
https://de.wikipedia.org/wiki/Minus_Delta_t

Literatur

Minus Delta t Plus: Das Bangkok-Projekt. Berlin: Merve Verlag 1984

Mike Hentz: Works 4. Köln: Salon Verlag 1999.

Hartmann, Walter: Silberne Ameisen, Trillerpfeifen und umgekehrtes Echo, Rock Session. Magazin der populären Musik Nr. 4, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1980, S. 48 – 76.

Vogel, Sabine: Interview mit Minus Delta t in Lenins Arbeitszimmer, Kunstforum International Bd. 103, S. 115 – 119.

Interview mit Salvatore Vanasco

Interview mit Christiane Klappert

Interview mit Ulrike Gabriel

235 Media im Medienbus von Minus Delta in Kassel bei der documenta 1987

Bangkok-Projekt: Karel Dudesek, Wolfgang Georgsdorf, Bernhard Müller

Die Kunstaktie mit der das Bangkok-Projekt finanziert werden sollte

Die Philosophische Datenbank vor ihrer Installation im Himalaya

Die Philosophische Datenbank wird in den Himalaya transportiert

Minus Delta t, Medien-Bus

Lastwagentransport des Steins beim Bangkok-Projekt

Minus Delta t als Kulturpolizei auf der documenta 1987: Malika Ziouesch, Mike Hentz, Karel Dudesek

Minus Delta t, Papst-Audienz

Minus Delta t, Shvantz-Festival in Frankfurt

Minus Delta t, Shvantz-Festival in Frankfurt

Minus Delta t, Installation, Shvantz-Festival in Frankfurt

Minus Delta t live

Minus Delta t, Medien-Bus

Minus Delta t mit dem österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky

Minus Delta t, Opera Death, ars electronica

Minus Delta t, Performance im Ratinger Hof in Düsseldorf

Minus Delta t mit Johannes Rau

Minus Delta t mit Fred Sinowatz

radio literaire frankfurt, 1987 im Medien-Bus

Equipment des Bangkok-Projekt

Dokumente

Presse