Piazza virtuale

„Piazza virtuale“ war ein Medienexperiment, das 1992 bei der documenta IX stattfand. Van Gogh TV, eine Gruppe von Künstlern und Hackern, wollte die Lebensart auf der italienischen Piazza – einem Ort der zwanglosen Treffen und Gespräche – in die Medien übertragen. Dafür nutzten sie alle damals verfügbaren elektronischen Medienarten, um das Fernsehpublikum, das die Sendung täglich auf 3Sat sehen konnte, in das Geschehen auf dem Bildschirm einzubeziehen.

Per Telefon, Fax, Mailbox und Bildtelefon konnte man auf die Gestaltung der Sendung Einfluss nehmen, mitdiskutieren, sich kennenlernen, gemeinsam Musik machen und malen oder eine Kamera im Kasseler Studio bewegen. Per Bildtelefon wurden Programme der sogenannten „Piazzettas” – Mikrostudios in vielen Städten Deutschlands, in anderen europäischen Städten und sogar aus Japan – nach Kassel gesendet.

In dieser frühen „Virtual Community“ (Howard Rheingold) waren viele Phänomene, die heute zu den definierenden Kennzeichen der Netzkultur gezählt werden, im deutschen Sprachraum zum ersten Mal von einer breiteren Öffentlichkeit zu beobachten. Als ein durch Publikumsbeiträge gestaltetes Medienangeboten nahm das Projekt zahlreiche Eigenschaften der Sozialen Medien der Gegenwart voraus. Für „Piazza Virtuale” wurde Van Gogh TV 1993 mit dem Siemens Medienkunstpreis am Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) und mit einer „Honorary Mention” beim Prix Ars Electronica ausgezeichnet.

Van Gogh TV, die Veranstalter von „Piazza virtuale”, hatte eine Reihe von Vorgänger- und Partnerorganisationen. Die Mitglieder kamen aus einer Kunstszene, in der die künstlerische Arbeit in Kollektiven ebenso gängig und wichtig war wie die Präsentation dieser Aktivitäten unter Namen, die an Marken- oder Unternehmensnamen erinnerte. Van Gogh TV wurde 1986 von den Künstlern Mike Hentz, Karel Dudesek, Benjamin Heidersberger und Salvatore Vanasco gegründet. Hentz und Dudesek gehörten zuvor der 1978 gegründeten Künstlergruppe Minus Delta t an, die vor dem Hintergrund der deutschen Punk- und New-Wave-Szene Aktionen, Performances und Konzerte durchführten. Minus Delta t führte auch eine Reihe von Aktionen durch, die neben ihren Performances und Konzerten bereits die Arbeit mit Medien wie Video, Radio, Computern und Computernetzwerken, Slow Scan Video und dem Fernsehen erprobten. Dazu gehörten unter anderem „The Project” 1986 bei der ars electronica und ihre Teilnahme an der documenta 8 im Jahr 1987, wo die Gruppe neben ihren Auftritten als „Kulturpolizei” und Performances in der Diskothek Manhattan auch einen Medienbus mit Videoschnittplatz und anderen Produktionsmedien auf dem Friedrichsplatz vor dem Fridericianum geparkt hatten, aus dem sie während der Ausstellung einen Piratenradiosender betrieben.

1987 wurde Ponton gegründet, das im selben Jahr ein eigenes Media Lab in Hamburg einrichtete und durch die Hamburger Kulturverwaltung durch Projektförderung unterstützt wurde. Vor „Piazza virtuale” führte die Gruppe die Projekte „Re-Publik-TV” (1989) und „Hotel Pompino” (1990) bei der ars electronica sowie „Ballroom TV” (1991) in dem Berliner Club 90 Grad durch, die auch auf dem Berliner Privatsender Fernsehen aus Berlin (FAB) übertragen wurde. Wie schon beim Bangkok Projekt von Minus Delta t entstanden auch bei ihren Reisen durch den Ostblock 1989 Videoaufnahmen, die unter dem Namen „Archive Europa” gesammelt und ausgestellt wurden.

Als institutionelle Plattform gründete die Gruppe die Junge Gesellschaft zur Förderung der Kunst und Medientechnologie e. V. Hamburg und Salvatore Vanasco, Karel Dudesek und Mike Hentz führten unter dem Namen Universcity TV Seminare, Konferenzen und Weiterbildungsveranstaltungen für Studenten und junge Medienschöpfer durch. Nach „Piazza virtuale” gab es 1993 eine Version dieses Projekts, die vom japanischen Fernsehsender NHK ausgestrahlt wurde. 1994 zeigte Van Gogh TV bei der ars electronia „Service Area a.i.”.